Da tut sich was! Lebenswissenschaften und Gender Studies im Dialog zur Vielfalt des Geschlechts

Was ist biologisches Geschlecht – was ist „sex“? Wo brechen binäre Geschlechtergrenzen auf? Wie können wir Sex/Gender transdisziplinär zusammendenken, diskutieren und erforschen? Wie können wir die Anerkennung von Geschlechtervielfalt gesellschaftlich stärken?

Neuere Debatten zur Geschlechtervielfalt bringen Bewegung in den notwendigen Dialog zwischen MINT-Fächern und den Gender Studies. Aktuelle Forschungen in den Lebenswissenschaften zu „Sexdiversity“ eröffnen inzwischen ganz neue Sichtweisen auf anatomische und funktionelle Geschlechtervielfalt in differenten Genderkontexten. Forschungs- und Arbeitsgruppen in Biologie, Gesundheitswissenschaften und Medizin diskutieren geschlechtliche Diversität jenseits und zwischen den Polen „Frau“ versus „Mann“. Sie ringen um notwendige forschungsreflektierte Ansätze für einen adäquaten Umgang mit Menschen vielfältiger Geschlechtlichkeit und gegen deren Diskriminierung, Ausgrenzung und Verletzung. Die sozial- und kulturwissenschaftlichen Gender Studies können wichtige Perspektiven zum Verständnis multipler Geschlechter-Identitäten, Geschlechter-Rollen und Begehrensformen in sozialen und kulturellen Kontexten beitragen. Sie tun sich aber immer noch schwer in der Auseinandersetzung mit biologischer Geschlechtlichkeit, nicht zuletzt aus Sorge vor binären Essentialisierungen zur Legitimation machtvoller gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse. Die Feminist Science Studies arbeiten in und für die Naturwissenschaften mit Ansätzen zur Analyse der Untrennbarkeit von Sex/Gender. Diese ermöglichen ein fundiertes Verständnis zum Zusammenwirken von körperlichen und sozialen Faktoren in der Geschlechtsentwicklung. Ein offenes, fundiertes und reflektiertes Zusammenarbeiten dieser Wissenschaftsbereiche ist notwendiger denn je in Zeiten eines antifeministischen Backlash in traditionell-binäre Geschlechterkonzepte und Angriffe gegen Geschlechtervielfalt.

Zeit für Dialog

Das ZtG bietet mit dem Kolloquium „Geschlecht – Körper – Vielfalt. Neue Perspektiven für Biologie, Medizin und Gesundheitswissenschaften“ vom 7.-8. November 2024 den Raum und die Zeit für einen intensiven Austausch zwischen den Lebenswissenschaften und den Gender Studies zu all diesen Fragestellungen. In vier Panels zu „Geschlechtsentwicklung“, „Neurobiologie“, „Gesundheitswissenschaften und Medizin“ sowie zur „Didaktik der Lebenswissenschaften und MINT-Fächer“ kommen Vertreter:innen der verschiedenen Fachrichtungen miteinander und mit den Teilnehmenden am Kolloquium ins Gespräch.

Forschende der Genetik, Sexualwissenschaften, Hormonforschung, Gehirnforschung, Biologiedidaktik, Medizin und Gesundheitswissenschaften werden von ihren Forschungsergebnissen, ihren Initiativen zum Wissenstransfer und über genderreflektierte Ansätze für eine gesellschaftlich kontextualisierte Forschung berichten. Vertreter:innen aus der medizinischen Praxis stellen neu etablierte medizinische Versorgungskonzepte für vielfältige Geschlechterkörper vor. Vortragende aus den Gender Studies und der Feminist Science Studies bringen Ansätze ins Gespräch, mit denen naturwissenschaftliche und medizinische Ergebnisse und Forschungspraxen zur vielfältigen Geschlechtsentwicklung in gesellschaftlichen Kontexten reflektiert werden können. Sie stellen multifaktorielle Forschungsansätze zur Vielfältigkeit von Sex/Gender, beispielsweise im NeuroGenderings-Netzwerk zur Diskussion. Sie berichten von Initiativen zur Vermittlung gesellschaftlich kontextualisierter Forschung in der Lehre der MINT-Fächern. Durch großzügige Diskussionszeiten wollen wir einen fundierten fachübergreifenden Austausch zwischen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften anstoßen und vertiefen.

Leitlinie Sex Contextualism

Das Kolloquium wird geleitet durch eine Keynote zu „Sex Contextualism in Practice“ von Sarah Richardson, Professorin für History of Science und für Studies of Women, Gender, and Sexuality an der Harvard University. Sie ist Initiatorin des transdisziplinären GenderSci Lab, das intersektionale Analysen zu Sex/Gender und Ansätze zu deren Integration in die MINT-Fächer erarbeitet. Mit dem Konzept des Sex Contextualism (2022) richtet sich Richardson direkt an die biologisch-medizinische Forschung, um die Operationalisierung und Interpretation von Sex/Gender in den Forschungspraxen des Feldes zu unterstützen. Grundlage hierfür sind die bereits vorliegenden Ansätze der Feminist Science Studies. Sex Contextualism fordert Forschende auf zu hinterfragen, ob eine binäre Kategorisierung von biologischem Sex die einzig relevante Differenzierung für ein Forschungsvorhaben sein kann. Denn unter Einbezug vieler biologischer Marker in den Genen, Zellen, Hormonen und in komplexen körperlichen Netzwerken werden Variationen von Geschlechtlichkeit und ihre komplexen Zusammenhänge mit Organentwicklungen und biologischen Prozessen ersichtlich. Umweltbezogene Einflüsse, Erfahrungen oder auch Altern schreiben sich zudem in diverse körperliche Geschlechterdynamiken ein.

Richardson fordert zudem dazu auf, Forschungsergebnisse als Interpretationen und nicht als letztendliche Wahrheiten zu verstehen. Ihr Erklärungsgehalt verändert sich, wenn weitere Faktoren in die Analyse einbezogen werden. Verallgemeinerung von Ergebnissen, z.B. von Zellen auf Körper und auf festgelegte, binäre Geschlechtergruppen sind kritisch zu reflektieren. Eine veränderungsoffene Sprache statt deterministischer Rhetorik ist für wissenschaftliche Aussagen wichtig. Ebenso müssen Forschende die Auswirkungen ihrer Aussagen reflektieren und Verantwortung für gesellschaftliche Implikationen übernehmen.

Reflektierte Wissenschaft für Geschlechtervielfalt

Mit dem Kolloquium wollen wir aus einem fundierten transdisziplinären Dialog heraus intensivere Kollaborationen zwischen Forscher:innen und Forschungsgruppen der Lebenswissenschaften, der Gender Studies und der Feminist Science Studies unterstützen, um Ansätze zur Vielfalt und zum Zusammenwirken von Sex/Gender entscheidend voranzubringen. Der gemeinsame fachübergreifende Austausch mit allen Anwesenden kann die lebenswissenschaftlichen Forschungsergebnisse zur Geschlechtervielfalt für die Gender Studies fruchtbar machen. Für die Biologie, Medizin und Gesundheitswissenschaften liefert er gendertheoretische Perspektiven zur sozio-kulturellen Kontextualisierung der eigenen Forschung.

Gleichzeitig kann eine solcher fächerübergreifender Dialog Grenzen überwinden und Barrieren zwischen MINT und Gender Studies abbauen. Eine nachhaltige Institutionalisierung der bisher vorwiegend sozial- und geisteswissenschaftlich ausgerichteten Gender Studies auch in den MINT-Fächern, wie vom Wissenschaftsrat im Juli 2023 eingefordert, ist ein weiteres Ziel der Zusammenarbeit. Hier eröffnen sich erkenntniserweiternde Potentiale sowohl für einen gendertheoretisch informierten Forschungsaustausch als auch Ansatzpunkte für die Kompetenzentwicklung beim wissenschaftlichen Nachwuchs und Studierenden aller Fächer für eine reflektierte, gesellschaftlich kontextualisierte Wissenschaft. Diese kann der Re-Traditionalisierung binärer, hierarchischer Geschlechterkonzepte in der Gesellschaft entscheidend entgegenwirken.

Um Anmeldung zum Kolloquium bis zum 28.10. wird gebeten.

 

Titelbild
Die Collage des Posters wurde erstellt von Lydia Romanowski und Tabea Vohmann. Vollständige Bildnachweise sind hier aufgelistet: https://hu.berlin/geschlecht-koerper-vielfalt-bildnachweise

 

Dr. habil. Sigrid Schmitz, habilitierte Biologin und Wissenschaftsforscherin, arbeitet seit mehr als 30 Jahren zu feministischen Science & Technology Studies. Im Dialog mit Kolleg*innen aus den MINT-Disziplinen diskutiert und entwickelt sie Ansätze zur Inklusion von Genderperspektiven in die MINT-Forschung, Nachwuchsförderung und Lehre. An der Universität Freiburg leitete sie das Kompetenzforum „Gender in Informatik und Naturwissenschaften [gin], konzipierte als Professorin und Gastprofessorin Lehrformate zur Reflexion von Gender in der Wissensproduktion in MINT an verschiedenen Universitäten (Graz, Berlin, Oldenburg, Freiburg, Wien). Am ZtG hat sie 2017-2020 das Portal „Gendering MINT digital“ (gef. vom BMBF) entwickelt und leitet derzeit das Projekt Gendering MINT didaktisch-digital (gef. von StIL).

Dr. habil. Kerstin Palm war von 2013-2018 Professorin für Gender & Science am Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist seit 2018 dort als Arbeitsgruppenleiterin und Hochschullehrerin des Forschungsbereichs Gender & Science tätig. Sie bringt durch ihre Dreifachqualifikation (Promotion in Biologie, Habilitation in Kulturwissenschaft, Historische Epistemologie), seit 20 Jahren Lehre und Forschung in den Gender Studies im Bereich Gender & Science Einsicht in die Funktionsweisen und Sinnhorizonte der verschiedenen Fachkulturen mit und moderiert interdisziplinäre Zusammenkünfte, bei denen es speziell um die Verständigung und den Konzepttransfer zwischen naturwissenschaftlichen und geistes-/sozialwissenschaftlichen Perspektiven geht.

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