Das Bild zeigt Christa Wolf am Schreibtisch sitzend

Christa Wolf im Jahr 2021

Am 1. Dezember 2011 starb Christa Wolf. Wie lebendig ist ihr Werk im Jahr des zehnten Todestags? Das Bild der 1929 geborenen Autorin hat sich durch die Vielzahl an posthum publizierten Texten entscheidend erweitert. Außer der Fortsetzung ihres dokumentarischen Tages-Buchs Ein Tag im Jahr, zwei großen Nachlass-Erzählungen, Essays, Interviews, Reden, Reisetagebüchern und überraschenderweise sogar Versen trugen insbesondere mehrere Briefeditionen dazu bei. Die internationale Christa Wolf-Forschung nutzt die neu zugänglich gewordenen Quellen begeistert: 2016 erschien ein deutschsprachiges Christa Wolf Handbuch im Metzler Verlag und 2018 ein englischsprachiges im DeGruyter Verlag.

Ein ganzes „Briefwerk“ im Nachlass

Vor allem die mehr als tausend Seiten umfassende Auswahl Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952 – 2011 (2016) war geradezu spektakulär, ließ sie doch erstmals Umfang und Status dieses Teils des Gesamtwerks unübersehbar werden. Von 15 000 im Berliner Archiv der Akademie der Künste gesicherten Briefen wählte Herausgeberin Sabine Wolf fast 500 aus 60 Jahren aus und kommentierte sie als überraschend vielfältige Quellen von zeithistorischer Bedeutung. Briefe machen ein Drittel des mit um die 500 Archivkästen äußerst umfangreichen und bereits beeindruckend gut erschlossenen Nachlasses aus.

Alltagsdokumentaristin und Briefpoetin mit weitreichendem Netzwerk

Auch wenn man zuvor von einzelnen Briefwechseln wusste, etwa dem mit Anna Seghers, Brigitte Reimann, Wander, Franz Fühmann, Sarah Kirsch, Max Frisch, Charlotte Wolff, den Kopelews oder Carlfriedrich Claus, so war die Alltagsdokumentaristin und Briefpoetin Christa Wolf doch erst noch zu entdecken. Was für eine Intensität an Beziehungen zu Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft zeigte sich, was für ein Reichtum an Gesten der Zuwendung, des konkreten Interesses und der jahrzehntelangen Teilnahme an Leben und Arbeit anderer! Die selbstverständliche Verbundenheit mit Kolleginnen und Kollegen in aller Welt lässt auf ein Netzwerk schließen, dessen detaillierte Rekonstruktion das Bild von der geschlossenen Gesellschaft DDR relativieren dürfte. Gerade jungen Leuten öffnen diese Brief- und Tagebuchdokumente einen Zugang zur Alltagsgeschichte des geteilten und vereinten Deutschlands, der neuartige Fragen entstehen lässt und Festschreibungen aufbricht.

Christa Wolf als Leserin studieren

Ähnliches gilt für Christa Wolf als Leserin. Welche Heterogenität an Lektüren tritt einem in Brief, Tagebuch und Essay entgegen! Seitdem die umfangreiche Privatbibliothek von Christa und Gerhard Wolf 2015 als Schenkung an die Humboldt-Universität ging, entdecken Student_innen die Schreibende auch als Lesende, die mit Stift, Lesezeichen und diversen Einlagen direkt Spuren in Büchern hinterließ. Neben die Neugier darauf, was die Wolf denn wohl wann (und wo) las, tritt diejenige auf das Wie des Lesens. Bachelor-Studierende entziffern Randbemerkungen, versuchen Lektüren zu datieren und gehen Spuren von Widmungen nach. Wo DDR-Erstausgaben und westdeutsche Lizenzausgaben von Kindheitsmuster, Kein Ort. Nirgends oder Kassandra gegenständlich nebeneinander stehen, geben sich voneinander abweichende Kontexte zu erkennen, welche die Rezeption in Ost und West geprägt haben dürften. Da die 2016 gegründete Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf an der Humboldt-Universität darüber hinaus auch ihre Sammlung hunderter Lizenzausgaben in den verschiedensten Sprachen zugänglich macht, stoßen Master-Studierende auf die bislang viel zu wenig beachtete Frage nach der Übersetzbarkeit des literarischen Stils etwa eines Werks wie Medea.Stimmen.

Christa Wolf ausstellen

Das Bild zeigt ein Ausstellungsbanner mit Briefauszügen von Christa Wolf
Eines von 14 Bannern der Ausstellung „NEU CHRISTA WOLF LESEN“ mit Briefauszügen von Christa Wolf

Seit 2019 ist die Privatbibliothek Wolf Teil der HU-Sammlungen. Ihr kultur- und zeithistorischer Rang findet damit auch institutionell Anerkennung. In der Dauerausstellung „Flechtwerk der Dinge. Sammlungsschaufenster der HU zu Berlin“ kann man seit Oktober 2019 unter 80 Objekten aus 24 Sammlungen auch einem Exemplar von Thomas Manns Roman Doktor Faustus mit Lesespuren Christa Wolfs begegnen.

Die 2013 in Berlin gegründete Christa Wolf Gesellschaft (CWG) bringt Fachleute und Liebhaber_innen, Forschende und Studierende, Alte und Junge, Historiker_innen und Mediziner_innen, Ost- und Westsozialisierte, deutsche und internationale Leser_innen zusammen. In ihrem achten Jahr besteht sie aus 160 Mitgliedern. Stetig initiiert und unterstützt die CWG die öffentliche Auseinandersetzung mit Werk und Wirken der Autorin: In Kooperation mit polnischen Partner_innen wurden in Wolfs Geburtsstadt Gorzow Wielkopolski die künstlerische Gestaltung einer Giebelwand zu Kindheitsmuster, die Aufstellung des Denkmals „Nellys Bank“ und die Einrichtung eines Christa Wolf-Kabinetts in der Stadtbibliothek ermöglicht. Vor dem Wohnhaus im Pankower Amalienpark wurden eine Gedenktafel und die Skulptur „Maske der Medea“ aufgestellt. Die Grabstätte der Autorin auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof gehört, auf Initiative der CWG, seit 2018 zu den Ehrengräbern des Berliner Senats. In Vorträgen, Lesungen, Theaterdiskussionen, Ausstellungen und Gesprächsreihen wurden Mitglieder der Gesellschaft außer in Gorzow u.a. auch in Berlin und Brandenburg, in Dresden, Halle, Wittenberg, Erfurt, Gera, Hamburg, Magdeburg, Frankfurt am Main, Frankfurt/ Oder, Köln, München, Wien, Zürich, Tübingen und Leipzig aktiv.

Großer Beliebtheit erfreut sich seit Jahren die von Dr. Therese Hörnigk kuratierte Reihe „Begegnungen mit Christa Wolf“. Gefördert von der CWG und der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften (ALG), der Lottostiftung, dem Suhrkamp Verlag, der Humboldt-Universität und der DEFA-Stiftung erarbeiteten Studierende mit Martin Hoffmann und Birgit Dahlke die Ausstellung „NEU CHRISTA WOLF LESEN“ zum 90. Geburtstag der Autorin. Die 14 Banner wandern seit März 2019 durch Literaturhäuser, Bibliotheken und Stiftungen und sind Anlass für szenische Lesungen und Buchpremieren, für Podiumsgespräche und Vorträge.

Die 12. Hans-Werner-Richter-Literaturtage in Bansin werden sich unter der Leitung des CWG-Vorstandsmitglieds Prof. Dr. Carsten Gansel im November 2021 Christa Wolf widmen. In diesem Rahmen werden Studentinnen des Instituts für deutsche Literatur der HU ihre szenische Collage zu einem wichtigen Essay Gerhard Wolfs präsentieren, der sich unter dem Titel „Memorial für Franci Faktorova“ dem Leben der tschechisch-jüdischen Familienfreundin widmet.

In der Eröffnungsausstellung des Humboldt-Labors im Berliner Humboldt Forum wird unter 40 Exponaten auch eines zu Christa Wolf zu sehen sein. Unter dem Motto „Poesie der Kritik“ erarbeiteten Studierende, angeleitet von Birgit Dahlke, ein Ausstellungsobjekt rund um Christa Wolfs 1987 erschienenes Buch Störfall. Nachrichten eines Tages, das sich kritisch mit patriarchalen Tendenzen in der Wissenschaft und ihrer Geschichte befasst. Die poetische Stimme erhebend wird mit Christa Wolf nach blinden Flecken naturwissenschaftlichen Expertentums gefragt, danach, wer Wissenschaft eigentlich betreibt und was in der Sprache der Spezialisten nicht vorkommt. Sobald das Humboldt-Labor öffentlich zugänglich ist, werden Studierende und Forschende das Exponat zum Anlass nehmen, zehn Jahre nach dem Tod der Autorin die Aktualität und Lebendigkeit des Christa Wolf-Gesamtwerks vor Augen zu führen.

 

PD Dr. Birgit Dahlke, Vorstandsmitglied der CWG, ist Literaturwissenschaftlerin und seit 2016 Leiterin der neu eingerichteten „Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf“ an der Humboldt Universität Berlin. Sie promovierte 1994 an der FU Berlin und habilitierte 2003 an der HU Berlin. Unter dem Titel „Christa Wolf. Antifaschistin – Humanistin – Sozialistin“ erschien 2020 ihr Porträt in der Reihe „Humanistische Porträts“ bei Königshausen & Neumann.