Das Bild zeigt einige im Seminar "Poetiken der Ausschlüsse" besprochene Bücher

#AusdemSeminarraum: Poetiken der Ausschlüsse oder Poetiken der Transformation?

Lyrische Sprache birgt große politische Macht, Diskriminierungen zu benennen, bloß zu stellen und zu dekonstruieren. Poesie kann mehrfachdiskriminierte Personen empowern. Poesie anderer queerer, trans*, migratisierter Menschen hilft mir befreiende Schönheit in den Brüchen und Weisheit in den Verlusten zu finden. Neben meiner Promotion gebe ich Empowerment-Workshops zum kreativen Schreiben für queere Migrant_innen. Ich habe an literarischen Anthologien „Re:Write“ (2018) und „Wir haben was zu sagen“ (2018) konzeptionell und editorisch mitgewirkt, und schreibe translinguale Lyrik und Kurzprosa. Dieses Wissen ließ ich in die Konzeption meines Seminars „Poetiken der Ausschlüsse: Gender, Zugehörigkeit, Zeit und Körper in der Lyrik“ im Wintersemester 20/21 am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien miteinfließen.

Im Zentrum des Seminars stand die Frage danach, ob in den Texten mehrfachpositionierter Autor_innen sich eine spezifische Poetik identifizieren lässt. Können wir von einer spezifischen Poetik der Ausschlüsse sprechen? Wodurch zeichnen sich lyrische Texte, die von Diskriminierung handeln, sprachlich aus? Wie gehen unterschiedliche Autor_innen mit den Erfahrungen der Nicht-Zugehörigkeit um? Wie werden die Fragen der kollektiven und individuellen Identität in Texten der zeitgenössischen Lyrik verhandelt? Was macht Übersetzung mit unserer Wahrnehmung ‚fremdsprachlicher‘ Dichtung? Was hat Translingualität mit postmigrantischen Gesellschaften zu tun? Gemeinsam mit einer biographisch und disziplinär diversen BA-Studierendengruppe haben wir uns auf die Suche nach Antworten begeben.

Literaturwissenschaft intersektional

Dieses Seminar stellte ein Experiment in Wieder-Erfindung einer zeitaktuellen queer-feministischen, rassismuskritischen, intersektionalen Literaturwissenschaft dar. Mein Lehrplan hat komplett auf (lyrische sowie theoretische) Texte der renommierten „alten weißen Cis-Männer“ verzichtet. Stattdessen beinhaltete er Werke von Schwarzen Frauen, nicht-westlichen Trans*personen, Queers of Color und postsowjetischen Feministinnen. Gedichte von Audre Lorde, May Ayim, Semra Ertan, Alok Vaid Menon, Dragica Rajčić, Ocean Vuong, Dinara Rasuleva, Ruthie Jenrbekova, Maria Vilkovisky, Urayoán Noel waren Teil des Lehrplans. Zusätzlich wurden zwei (post-)migrantische Lyrikbände „Haymatlos“ und „Wir haben was zu sagen“ als poetisch-politische Anthologien analysiert.

Dabei hat uns die Frage nach Kanonbildung, literarischen Institutionalisierungs- und Anerkennungsprozessen sowie nach den dem Literaturbetrieb inhärenten Machtverhältnissen wie Klassismus beschäftigt. Wir haben über die geotemporale Verortung der Lesenden und Schreibenden gesprochen, haben die westlich-moderne Dichotomie von ‚High theory‘ und ‚gelebtem Wissen‘ hinterfragt und den Zusammenhang zwischen unseren Lesegewohnheiten und eurozentrischen ästhetischen Kanones diskutiert.

Mein besonderes Anliegen war es, Lyriker_innen aus der postsowjetischen Region in die Debatte zu bringen. Im Rahmen meines letzten Seminars „Queere postsowjetische Perspektiven“ (WiSe 19/20) konnte ich feststellen, wie groß der Bedarf nach einer rassismuskritischen lokalisierten Wissensproduktion zu diesen Regionen ist – auch unter Studierenden. Die Autor_innen Dinara Rasuleva, das Künstler_innenduo aus Krëlex zentre Ruthie Jenrbekova und Maria Vilkovisky sowie Autor_innen der Anthologie „Wir haben was zu sagen“ Daria Ma und Ostblockschlampe kamen zu unseren Sitzungen. Für die Diskussionen haben sich die Studierenden in diskriminierungssensibler Interviewführung und Veranstaltungsplanung geübt.

Die Verschränkungen von Gender, Race, Class, Sexualität und weiteren gesellschaftlichen Kategorien haben wir mit den Erkenntnissen der queer-feministischen, trans-feministischen, post- und dekolonialen Theorien sowie der kritischen Migrationsforschung in Bezug zu ausgewählten literarischen Texten gesetzt. In Kleingruppen, gemeinsamen Zoomdiskussionen und schriftlicher Einzelarbeit haben die Student_innen analysiert, wie individuelle Diskriminierungserfahrungen poetisch aufgefasst und systematische gesellschaftliche Ausschlüsse unterwandert werden können. Fragen der kulturellen Aneignung, der Standpunkttheorie (Haraway) und des positionierten Forschens waren dabei zentral. Sowohl die Strategien wie Disidentifikation (Muñoz), als auch Strategien der Mimicry (Bhabha), des Parodierens, Aneignens, Subvertierens, aber auch problematische Strategien, wie die in einem lyrischen Text eine Diskriminierungserfahrung mit Hilfe einer anderen hervorzuheben, wurden im Seminar diskutiert.

Gibt es eine Poetik der Ausschlüsse?

Der Zusammenhang der gesellschaftlichen Positionierung und Identität mit Poesie wird von unterschiedlichen Autor_innen unterschiedlich aufgefasst. Von: „Was ist, wenn ich keine Lust hab über Unterdrückungen zu schreiben. Über Blicke, die mich entmenschlichen“ bei Judith Baumgärtner, einer Poetin aus der Anthologie Haymatlos (2018) und einer Ablehnung von Begriffen wie ‚LGBT-Poetry‘ und ‚Women’s Poetry‘ zugunsten des Begriffs „Queer poetry“ bei Jenrbekova und Vilkovisky – bis zu “Poetry is the way we help give name to the nameless so it can be thought.“ (Lorde 1985) bei Audre Lorde, die Poesie “as the revelation or distillation of experience, not the sterile word play” (Ebenda) definiert und in direkten Zusammenhang mit den Erfahrungen der Schreibenden bringt. Auch Gloria Anzaldúa hat die gesellschaftsverändernde Kraft der Kunst unterstrichen: “We need artistic expressions and efforts that heal and inspire, that generate enough energy to make a difference in our lives and in those of others. We must create new art forms that support transformation.” (Anzaldua, 2015: S. 92).

Beim Sprechen über Poesie und Diskriminierung und deren Zusammenhang sind Verallgemeinerungen oft fatal verkürzend. Wie jede komplexe Diskussion, hat unser Seminar mehr Fragen aufgeworfen, als fertige glatte Antworten produziert. Vielmehr war mein Ziel, die Studierenden zum kritischen, neugierigen Lesen zu begeistern und ihnen Instrumente für diskriminierungssensible literarische Analysen zu geben.

Jedoch, was bei Poesie nicht zu übersehen ist, auch wenn wir sie in akademischen Räumen analysieren, ist, dass sie uns als ganzheitliche Wesen anspricht, unsere Emotionen und Affekte tangiert, unsere Erinnerungen triggert, unsere Selbstverständlichkeiten und Selbstverständnisse herausfordert, unsere Empathie und Vorstellungskraft trainiert und uns verändert. „Wie gehen wir mit Gefühlswelten im intellektuellen Raum um?“ – diese Frage stellte sich eine Studentin in ihrer Abschlussleistung. Viel haben die Studierenden über einen produktiven Umgang mit Privilegien diskutiert, über Mechanismen der Zuschreibungen und Grenzen der Sprache.  Die Reflexionsprozesse der eigenen Leser_inposition und der Entstehungskontexte kontemporärer lyrischer Texte haben Studierende in ihren Forschungstagebüchern festgehalten. Die letzten Sitzungen waren dem kreativen Schreiben gewidmet, wobei Studierende sich als literarische Rezensent_innen, Journalist_innen mit einem gesellschaftskritischen Instrumentarium der Gender Studies und als Autor_innen und Künstler_innen ausprobieren konnten.

Gemeinsamer Lernraum

Die ent-körperte Erfahrung des Online-Unterrichts, Zoom-Fatigue, Ungleichheiten im universitären System waren oft Rahmenthemen, die unseren Austausch begleiteten. Nachdem ich die Abschlussleistungen – tiefgründige, ehrliche, sarkastische und mutige Essays, Podcasts, Kunstwerke und Blogs der Studierenden gelesen habe, dachte ich, dass es uns als Gruppe gelungen ist, einen inspirierenden Lern-Raum gemeinsam zu gestalten, in dem wir als lebendige ganze Menschen mit unseren divergierenden Erfahrungen präsent waren. Ich hoffe, dass meine Auswahl der Texte und Methoden die Student_innen nicht nur zur präziseren Literaturrecherche und kritischen Diskursanalyse besser qualifiziert hat, sondern sie auch dazu gebracht hat, Schönheit in den Brüchen und Weisheit trotz Verluste zu suchen.

 

Literatur:

Anzaldua, Gloria. 2015. Light in the Dark/Luz en lo Oscuro: Rewriting Identity, Spirituality, Reality. herausgegeben von AnaLouise Keating. Duke University Press

Lorde, Audre. 1985. Poetry is not a luxury

Pathmanathan, Taudy; Düzyol, Tamer. (Hg.) 2018. Haymatlos. Edition Assemblage.

 

Das Format #AusDemDigitalenSeminarraum bietet die Gelegenheit, Lehr- und Studienerfahrungen in den Gender Studiengängen an der Humboldt-Universität zu Berlin zu reflektieren und darüber zu berichten. Die Gender Studies an der HU bieten seit mehr als zwanzig Jahren transdisziplinäre, intersektionale und wissenskritische Lehre an. Daraus erwachsen sind gefestigte Netzwerke und vielfältiges Erfahrungswissen, von denen die Gestaltung der Lehrveranstaltungen in jedem Semester profitiert. Zugleich bleiben Lehr- und Lernprozesse lebendig, sie stellen sich aktuellen Herausforderungen – wie im laufenden Semester der Umstellung auf digitale Lehre  – und fordern neue Gestaltungsweisen, sie entdecken innovative Themen und vielfältige Zugänge und sind oftmals gekennzeichnet vom herausragenden Engagement aller Beteiligten. Wer sich für die Lehre in den Gender Studies interessiert, wird hier Anregungen finden.

 

Masha Beketova hat slawische Sprachen und Literaturen und Gender Studies in Berlin und Moskau studiert und promoviert zurzeit am Institut für Slawistik und in den Gender Studies zum Thema „Queere postsowjetische Diaspora in Deutschland jenseits von (Un)Sichtbarkeit und (Selbst)Exotisierung“.