Opfer//Täter-Inversionen. Transnationale Filmkulturen, Psychotraumatologie und Täterforschung

Das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Trauma-Translationen. Inszenierungen und Imaginationen in Film und Theorie“ und die Monographie Opfer//Täter-Inversionen. Transnationale Filmkulturen, Psychotraumatologie und Täterforschung, die 2021 im Berliner Kulturverlag Kadmos erscheinen wird, fokussieren ausgewählte Momente der globalen Filmkunst.

Neuere Gewalt- und Täterforschung im Kontext der Humanwissenschaften betont, was internationale Filmkulturen seit Jahrzehnten in vielgestaltiger Weise thematisieren: Die binär gedachten Positionen von „Opfern“/„Überlebenden“ und „Täter_innen“ verschwimmen häufiger, als dass sie starre Konturen aufwiesen. Anstatt ausschließlich oder in dominanter Weise die Opferperspektive nachzuzeichnen, wie lange Zeit in der Geschichtswissenschaft und den Memory Studies praktiziert, rücken zahlreiche Filme die irreversible Gewaltverbindung zwischen Opfer- und Täterfiguren ins Zentrum. Sie wenden sich den Ursachen für Gewalt und Traumatisierung und deren Folgen zu und laden zu analytischem und problemlösungsorientiertem Denken ein (Fischer/Klein/Roth, 2013 [2012]). Gewalt wird als Teil geschlechterspezifisch beschreibbarer Beziehungsgeflechte sichtbar, die von Machtrelationen und ihnen entspringenden Abhängigkeiten geprägt sind – wie in Familien-, Bildungs- und Arbeitskontexten, im Militär oder in internationalen Konfliktzusammenhängen.

Opfer-Täter-Dichotomien herausfordern

Gemeinhin funktioniert Denken über die strikte Trennung in Opfer und Täter, die bei der Ahndung und Bestrafung einer Gewalttat rechtlich unumgänglich und bei ihrer Bewertung moralisch jedenfalls geboten ist; das Opfer bleibt hier immer das Opfer. Dies ist in vielen Fällen beziehungsweise bestimmten Stadien der Problembehandlung eine unumstößliche politische und operationale Notwendigkeit. Die Opfer-Täter-Dichotomie entspricht jedoch auch dem Bestreben, sich möglichst stark von der Täterkategorie abzugrenzen, um sich selbst die Position der Unschuld, Reinheit, Verantwortungsarmut und des Nicht-Involviertseins, die klassischerweise mit dem Opfer assoziiert wird, zu sichern. Judith Butler und Michael Rothberg reflektieren diesbezüglich über Implicatedness in Gewaltgeschichten, die jenseits direkt verantwortlicher Täterschaft von Komplizenschaft, über Mitwisserschaft, Billigen und Dulden bis hin zu komplexen Verwicklungen reicht (Rothberg, 2019).

Jüngst war dies als Nebeneffekt des Harvey Weinstein-Skandals, des #Metoo-Movements und der Time’s Up-Debatte zu beobachten. Werden Mediengestalten als Verkörperungen des ‚Bösen‘ symbolisch dehumanisiert („Monster“, „Dämon“, „Bestie“, „Barbar“) und imaginativ außerhalb der Gesellschaft lokalisiert, soll hierdurch ihr Destruktionspotential abgewehrt werden (vgl. René Girards Gewaltbegriff). In zahlreichen Fällen werden sie zu einem delinquenten Rätsel stilisiert, auf das mit Unverständnis, Abschätzigkeit, Verachtung, Hass oder sozialer Exklusion reagiert wird. Viel schwerer ist es jedoch, Täter_innen und Tätergruppen ebenfalls ‚Menschlichkeit‘, Normalität und Gewöhnlichkeit zuzuerkennen (Stefan Kühl; Harald Welzer) und mit ihrer verbreiteten Präsenz (in der Mitte der Gesellschaft) zu rechnen, woran der Psychotraumatologe Gottfried Fischer (2013 [2012]), die Rechtwissenschaftlerin Saira Mohamed (2015) sowie die Filmwissenschaftlerin Raya Morag (2009) erinnert haben.

In einigen Persönlichkeitsentwicklungen und intrapersonellen Beziehungen wird die scharfe Trennlinie zwischen Geschädigten und Schädigenden aufgehoben und Gewaltagent_in und Reagierende_r tauschen entlang der zeitlichen Achse die Seiten. So etwa bei Racheakten, Gewaltkettenbildung (Friedrich Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von „Verletzung und Gegenverletzung“) oder komplexen Beziehungsdynamiken, wie zum Beispiel bei Fällen von Stockholm-Syndrom, falschen Geständnissen oder wenn im Tatgeschehen eigene Gewalterlebnisse „traumatisch reinszeniert“ (Franziska Lamott) werden.

Zahlreiche Beispiele aus transdisziplinären Filmkulturen wissen um diese komplizierten Verstrickungsmöglichkeiten und enttabuisieren deren Diskussion. Sie halten ein elaboriertes und theoretisch informiertes Wissen über Prozesse wie Victim Blaming (inadäquate Schuldzuweisungen an Opfer durch Dritte), Reviktimisierung, Schuldumkehr, Opferstilisierung sowie Ausagieren, „Identifizierung mit dem Angreifer“ (Anna Freud) und „Introjektion“ von Täteranteilen durch Opfer inklusive unangebrachter Scham- und Schuldgefühle (Mathias Hirsch, Michaela Huber) bereit. Anstatt den Opferstatus generell zu idealisieren, zu universalisieren, zu heroisieren, als pur und quasi-sakral zu erklären und mitunter zu instrumentalisieren, zeigen Figurenkonstellationen in ausgesuchten Filmen Ausbrüche aus dem ‚Opferkorsett‘ auf. Bei Transgressionen solcherart spielt eine wesentliche Rolle, wie die geschlechtliche Codierung der jeweiligen Filmfigur und deren Verbindung zu den Intersektionskategorien race, class, age, disability und fatness entworfen wird und welche aktuellen, historisch konkreten oder überzeitlich virulenten Traumaszenarien die Charaktere verkörpern. Das Medium Film bringt spielerische Narrationen und innovative ästhetische Gestaltungsmittel hervor, die einen symbolischen Überschuss, ein Surplus, produzieren. Hierin spiegeln sich vielfältige Topoi der Psychotraumatologie und Gewaltforschung; Film führt letztere jedoch nicht nur vor, vielmehr kritisiert oder inspiriert er sie fruchtbringend.

DFG-Forschungsprojekt Trauma-Translationen

Das interdisziplinäre DFG-Forschungsprojekt „Trauma-Translationen. Inszenierungen und Imaginationen in Film und Theorie“ (Laufzeit: 2014−2018) widmete sich den Wechselwirkungen zwischen internationaler Filmgeschichte, Konzepten der Psychologie und Psychotraumatologie und Elementen der historischen wie neueren Täterforschung. In kultur- und filmwissenschaftlicher Perspektive wurde der Wissenstransfer zwischen (1.) kulturellen Repräsentationen von Vergangenheit in Form filmisch inszenierter Trauma- und Gewaltgeschichten, (2.) den sich wandelnden Landschaften der klinischen und kulturwissenschaftlichen Traumatheorie und Gewaltforschung sowie (3.) Erinnerungspolitik, Historiographie und nationalen Identitätskonstruktionen erkundet. Bei den projektbezogenen Workshops und Tagungen „Gender and Trauma: Material, Methods, Media“ (2019) in Michigan, „Opfer//Täter-Inversionen. Mediale Studien zu Täterhandeln und Gewalterfahrungen“ (2019), „Tätermodelle und Transgression. Grenzfälle in Gewalt- und Traumaforschung“ (2018), „Trauma & Kunst. Grenzzustände des Psychischen“ (2017) und „Languages of Trauma. Body/Psyche, Historiography, Traumatology, Visual Media“ (2016) an der HU sowie „Over the Edge. Liminal Psychic States“ (2016) in NYC zeigte sich, dass das Phänomen der Umkehr von Opfer- und Täterrollen in transnationalen Filmkulturen vermehrt und in sich steigernder analytischer Präzision seit den 1970er Jahren ausgeleuchtet wurde.

Das Forschungsprojekt verstand sich als Teil einer kritischen und auf Früherkennung, Prävention und Intervention ausgerichteten audiovisuellen Trauma- und Gewaltforschung. Es fokussierte auf filmästhetische Verfahren und spezifische Bildstrategien (wie z.B. „Backstorywound“/Michaela Krützen, Flashbacks, Farbüberblendungen, Split Screen, Slow Motion), mithilfe derer das Wechselspiel von Täterhandeln und Gewalterfahrungen in Dokumentationen, Spielfilmen, Animés und TV- oder Internet-Serien in Szene gesetzt wurde. In prägnanten Performances gelang es dem filmischen Medium, sichtbar und nacherlebbar zu machen, was in der psychologischen Traumatologie und Täterforschung zum Teil erst Jahre später in theoretische Konzepte gegossen wurde. Hierzu zählen Phänomene wie Amnesie, Dissoziation, Trigger, Intrusion, Übererregung, „intrapsychische Krypta“ (Nicolas Abraham, Maria Torok), „traumatic memory“ (Bessel van der Kolk), post-traumatic growth und Resilienz oder passing-on (transgenerationale Weitergabe von Traumata oder Gewaltbereitschaft), Reenactment, Täterschutz, post-atrocity perpetrator symptom (J.B. Köhne) und Opfer//Täter-Inversion. Die ausgewählten Filme weisen vielfältige Anschlussstellen zu vorgängigem und nachfolgendem Theoriewissen auf, die es aufzuschlüsseln galt.

Das Wissen des Films

Da Filme über Grenzfälle der Trauma- und Gewaltforschung massenmedial bedingt eine hohe Reichweite aufweisen, ist das in ihnen generierte, filmsprachlich codierte Wissen auch in der Lage, kulturelle Imaginationen zu Opfer//Täter-Inversionen anzuregen. Filmisch fiktionalisierte individuelle oder kollektive Fallgeschichten treffen dabei auf gemeinschaftskonstituierende Opfermythen oder andere Repräsentationen von Täterschaft, die in der jeweiligen Kultur kursieren. Inhaltlich beziehen sich die im DFG-Projekt analysierten Filme – unter anderem Carrie/1976, Don’t Look Now/1973, Don’t Touch My Holocaust/1994, Kill Bill/2003/4, Precious/2009, War Matador/2011, The Act of Killing/2012, A Mots couverts. Shades of True: Female Perpetrators of the Rwandan Genocide/2014 und Systemsprenger/2019 – neben überzeitlichen Phänomenen wie Rachehandeln, sexualisierte Gewalt und Mobbing auf heterogene und tabureiche Geschichtsmomente in Verbindung mit dem Nahostkonflikt, den Kriegen im Irak und in Afghanistan (infolge von 9/11), dem japanischen Kollektivtrauma nach den Atombombenabwürfen sowie Genoziden im internationalen Raum. Die Analysen schließen an frühere Bestrebungen der Traumafilmforschung und der Trauma Cinema Studies an, en détail zu zeigen, wie Filme individuelle und/oder Kollektivtraumata inhaltlich und strukturell auszudrücken sowie ästhetisch-narrativ zu gestalten suchen (vgl. u.a. Blake, 2012 [2008]; Fischer/Wutka, 2013; Kaplan, 2005; Elsaesser, u.a. 2001; Lowenstein, 2005).

Trajektorie filmischer Trauma- und Gewaltforschung

Transnationale Filmkulturen sind seit Jahrzehnten als effektive Produzenten und Kommunikatoren von aufschlussreichem Wissen zu Gewalt- und Traumadiskursen ernst zu nehmen und als solche wertzuschätzen. Das Medium Film nimmt nicht nur bereits zirkulierendes Wissen auf, sondern spiegelt es nach dessen Verfilmung und phantasievoller Anreicherung in den sozialen Körper zurück. Dabei stimuliert es die Theorieproduktion in Trauma- und Gewaltforschung und deren therapeutische Modelle. Dieses Filmwissen demonstriert oder impliziert, wie Gewalt in der Realität besser vermieden oder interventionell begegnet werden kann. Filmgeschichte fungiert als Experimentierfeld, role model oder Inspirationsquelle für Konfliktforschung und Anti-Gewalt-Training. Zudem setzt das Filmwissen neue Impulse für regionale und nationale Erinnerungskulturen und Identitätsbildungsprozesse und prägt Geschichtsschreibungen, indem es zu kritischer Selbstreflektion einlädt.

Die projektierte Buchpublikation Opfer//Täter-Inversionen. Transnationale Filmkulturen, Psychotraumatologie und Täterforschung (Kadmos 2021) ist themen-, referenzzeit- und genreübergreifend angelegt. Die Monographie unternimmt Streifzüge in heterogene Trauma- und Täterforschungsfelder und fokussiert auf transgressive Modelle von Gewaltopfern und Täterschaft. Sie vereint kulturwissenschaftliche, psychologische und wissenschaftsgeschichtliche mit medienwissenschaftlichen, filmanalytischen und gendersensiblen Perspektiven. Die Auswahl der Filme zielt auf symbolische Dekolonialisierung (Rothberg) und eine Dezentralisierung des gängigen Fokus auf europäische und nordamerikanische Filmkulturen und Theoriegeschichten (Köhne, 2021).

Ausführlicher siehe

  • Peter Leese, Julia Barbara Köhne und Jason Crouthamel (Hg.): Languages of Trauma: History, Media and Memory. University of Toronto Press. (im Druck, 2021). peer reviewed
  • Jason Crouthamel, Michael Geheran, Tim Grady und Julia Barbara Köhne (Hg.): Beyond Inclusion and Exclusion. Jewish Experiences of the First World War in Central Europe. New York/Oxford: Berghahn Books 2018. peer reviewed
  • Michael Elm, Kobi Kabalek und Julia Barbara Köhne (Hg.):  The Horrors of Trauma in Cinema. Violence, Void, Visualization. Cambridge Scholars Publishing 2014. peer reviewed
  • Julia Barbara Köhne, Britta Lange und Anke Vetter (Hg.): MEIN KAMERAD – DIE DIVA. Theater an der Front und in Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs. München: edition text + kritik 2014.
  • Julia Barbara Köhne (Hg.): Trauma und Film. Inszenierungen eines Nicht-Repräsentierbaren. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2012.

Literatur

  • Fischer, Gottfried/Annika Klein/Alice Roth (2013 [2012]). Vom Opfer zum Täter. Traumafokussiertes Profiling in der Kriminalpsychologie. Kröning: Asanger Verlag.
  • Mohamed, Saira (2015). Of Monsters and Men: Perpetrator Trauma and Mass Atrocity. In Berkeley Law Scholarship Repository, 115 Colum. L. Rev. 1157.
  • Morag, Raya (2009). Defeated Masculinity: Post-Traumatic Cinema in the Aftermath of War. Bruxelles et al.: Peter Lang.
  • Lowenstein, Adam (2005). Shocking Representation: Historical Trauma, National Cinema, and the Modern Horror Film. Columbia University Press.
  • Rothberg, Michael (2019). The Implicated Subject. Beyond Victims and Perpetrators. Stanford University Press.

 

Julia Barbara Köhne, PD PD Dr., ist wissenschaftliche Projektmitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, an dem sie bis dato fünf Vertretungs- und Gastprofessuren innehatte. Von 2014 bis 2018 leitete sie hier das DFG-Forschungsprojekt „Trauma-Translationen. Inszenierungen und Imaginationen in Film und Theorie“. Köhne forscht und lehrt zu Interrelationen zwischen kulturwissenschaftlichen, medien- und filmwissenschaftlichen, wissenschaftsgeschichtlichen (bes. historische Militärmedizin, Psychotraumatologie und Geisteswissenschaften um 1900) und gendertheoretischen Wissenssettings. Derzeit betreibt sie im VW-Forschungsprojekt „Träume der Wissenschaft von Exzellenz. Rhetoriken und Politiken der Aufwertung, 1900 | 2000“ kritische Exzellenzforschung.