Zum Auftakt zur fünften Tagung des Netzwerkes NeuroGenderings, im März 2020 in Leiden (NL) mit dem Titel „Intersectional analyses of the sexed/gendered brain“ rief Deboleena Roy in ihrer Keynote dazu auf, dass sich naturwissenschaftlich Forschende in Fragen intersektionaler Diskriminierungen und sozialer Gerechtigkeit engagieren müssen. Deboleena Roy ist Molekularbiologin und Professorin für Women’s, Gender, and Sexuality Studies and Neuroscience and Behavioral Biology an der Emory-Universität von Atlanta/Georgia und eine der führenden Vertreter*innen der postcolonial feminist Science Technology Studies. Ihren Vortrag orientierte sie an ihrem kürzlich erschienenen Buch „Molecular Feminisms. Biology, Becomings, and Life in the Lab“ (2018).
Ashley Baccus-Clark, Molekularbiologin, multidisziplinäre Künstlerin und Performerin stellte in ihrer Keynote eine faszinierende Que(e)rschau ihrer Arbeiten zu intersektionalen Perspektiven auf Hirn-Verhalten-Forschung vor, ebenso wie ihre Zusammenarbeit mit internationalen Künstler*innen, Ingenieur*innen und Forscher*innen in den Hyphen-Labs. Anhand der gemeinsamen virtual reality performance „NeuroSpeculative AfroFeminism“, machte sie deutlich, wie in der Zusammenarbeit afroamerikanische Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen “reimagine the future of Black women in STEM fields” (https://www.iamabc.xyz/about). Die Performance wurde u.a. beim Sundance und Tribeca Filmfestival sowie im American Film Institute gezeigt. Rebecca Jordan-Young, Sozialmedizinerin und Professorin für Women’s, Gender, and Sexuality Studies am Barnard College der Columbia Universität und Guggenheim Fellow, brachte – ganz nebenbei auf einem Mittagsvortrag unabhängig von unserer Tagung – den Forschenden des Lorenz Centers (ein Institut in der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leiden) einige Grundlagen der sexistischen und rassistischen Testosteron-Debatte bei. Sie thematisierte jüngst zusammen mit Katrina Karkazis in „Testosterone. An Unauthorized Biography“(2019) differenziert die uneindeutigen Testosteron-Forschungen und die dennoch darauf legitimierten Hormontests und Behandlungen angeblich intersexueller Athlet*innen. Gender und race sind ausschlaggebende Merkmale dieser diskriminierenden und verletzenden Praktiken.
Darüber hinaus gab es für und mit ca. 50 Teilnehmenden – das sind ungefähr die Hälfte der knapp 100 Mitglieder des NeuroGenderings Netzwerkes – viele Einzelvorträge zu unterschiedlichsten Themen: aktuelle experimentelle Studien, intersektionale Konzepte für Neurowissenschaften und Medizin, Repräsentationskritiken, Analysen von Neurokulturen bis zu Transbrain-Debatten, Filme und Performances … und viel Zeit für Arbeitsgruppen, Diskussionen und Kontroversen. Nicht zuletzt eine Bootsfahrt zum Austauschen und Tanzen. All das gehört zum Neurogenderings-Netzwerk.
Eine kurze Geschichte von NeuroGenderings
Mit der Tagung wurde zugleich das 10-jährige Bestehen des Netzwerkes gefeiert. Dabei lässt sich an den im Titel enthaltenen Schlagworten Intersektionalität und Sex/Gender auch die Entwicklung der NeuroGenderings ablesen. 2010 gründete sich das NeuroGenderings-Expert*innen Netzwerk auf einer ersten Tagung in Uppsala, Schweden. Wissenschafter*innen aus den Neurowissenschaften, der Neuropsychologie, der Medizin, der Sozialmedizin, den Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften, den Gender und Queer Studies, den Feminist Science Technology Studies kamen aus Europa, den USA, Kanada und Australien zusammen, um die Wissensproduktion in der geschlechterbezogenen Hirnforschung und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen zu analysieren. Wie ich selbst, waren viele der Kolleg*innen schon länger in diesem ,Geschäft‘ tätig, aber erst in Uppsala fanden wir ein Forum, um einen differenzierten Dialog über die Disziplinengrenzen hinweg zu starten.
Das NeuroGenderings-Netzwerk – so nannten wir uns fortan – hat zum Ziel, Neurosexismen in der Forschung zu dekonstruieren und eine feminist neuroscience zu entwickeln, die Konzepte und Analysen für eine Sex/Gender-adäquate Forschung bereitstellt. Das sagt sich so einfach, war und ist aber mit viel Widerstand aus den etablierten Fächern verbunden.
Ausgewiesene kritische Analysen zu widersprüchlichen Befunden, zu systematischen methodischen Verzerrungen und Auslassungen sowie zu unzulässigen Generalisierungen von Differenzen zwischen Frauen und Männern in kognitiven Fähigkeiten, Gehirnstrukturen und -funktionen gab es schon; ebenso erste Metastudien, die im Vergleich vieler Einzelstudien keine durchgängigen Geschlechterdifferenzen ausmachen konnten (Kaiser et al. 2009; Jordan Young 2010; Bluhm et al. 2012). Dennoch, ein Publication Bias perpetuiert durch permanente Wiederholung von vermeintlichen Fakten die Mär der konträren Geschlechter-Gehirne – und dies besonders in populärwissenschaftlichen Publikationen (von einparkenden Frauen und Schuhe kaufenden Männern) und deren breiter Rezeption, aber auch in der neurowissenschaftlichen Publikationslandschaft.
Von der Kritik zur Konstruktion
Aufbauend auf der Dekonstruktion von Neurosexismen haben NeuroGenderings-Expert*innen in interdisziplinärer Zusammenarbeit in den letzten 10 Jahren viel geleistet. Es wurden Ansätze und Guidelines entwickelt, um Sex/Gender als Konstituierung aus multiplen und vernetzten biologischen, sozialen und kulturellen Faktorenbündeln (z.B. Alter, Ethnizität, Bildungsstand, Erfahrungen, Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung, Geschlechterrollenübernahme) zu erforschen (Rippon et al. 2014). Es geht um die Aufnahme solcher bio-sozio-kultureller Paradigmen in alle Phasen des Forschungsprozesses: von der Untersuchungskonzeption bis zur Interpretation der Daten und der Zitationspraxen. Und es geht permanent um die Benennung methodologischer Fehler und verzerrender Interpretationen in aktuellen Studien – manchmal mit Erfolg vor deren endgültiger Publikation, häufig erst nach ihrer Veröffentlichung und gegen beträchtlichen Widerstand der Beteiligten (Fine et al. 2014).
Eigene Analysen des Netzwerks finden allerdings inzwischen auch Eingang in renommierte Fachzeitschriften der Neurowissenschaften. Sie zeigen beispielsweise, wie vielfältig Gehirne sind, Mosaike anstatt männlich oder weiblich, und wie kontextabhängig sich plastische Gehirne entwickeln. Geschlechterverhältnisse prägen die Menschen und ihre Gehirne und umgekehrt werden soziale Verhältnisse durch diese weitergeführt – oder auch verändert (Übersicht in Schmitz/Höppner 2014). Neurofeminist*innen thematisieren Ein- und Auswirkungen aktueller Hirnvorstellungen, z.B. des permanent zu verbessernden Gehirns in neoliberalen Gesellschaften, und decken die Gender Biases dieser Neurokulturen auf (Schmitz 2012).
Von Dissensus und eigenen blinden Flecken
In 10 Jahren hat das NG-Netzwerk – vornehmlich aus eigener Kraft und ohne institutionelle Förderung – vier weitere Treffen organisiert. In diesen wurden Ergebnisse ausgetauscht, Strategien erörtert, junge Wissenschaftler*innen eingebunden und die eigenen Widersprüche thematisiert – nicht zufällig nannte sich das dritte Treffen, 2014 in Lausanne, „Dissensus“-Konferenz.
Während allerdings genderbezogene und queere Ansätze von Beginn an Raum in unseren Diskussionen und Zusammenarbeiten einnahmen, blieb die Analyse von racial impacts in die Neuro-Forschung, wie Emily Kuria (2014) es nannte, und vielmehr noch die Selbstreflexion von racial bias im Netzwerk lange unbeleuchtet. Das NG-Netzwerk war und ist vorwiegend weiß. Mit der Tagung „Intersectional analyses of the sexed/gendered brain“ wurden nicht nur Ergebnisse der Forschung zusammengetragen und konzeptionelle Fragen erörtert. Es ging ganz explizit um die Frage, wie wir mit unserem eigenen racism und dem racism in der Forschung umgehen? Was können wir dagegensetzen?
Wie geht es weiter?
Die der Konferenz folgenden Ereignisse, von Corona bis Black Lives Matter haben uns – wie die gesamte feministisch-akademische Community – vor neue Herausforderungen gestellt. Viele virtuelle Diskussionen, Meetings, Austauschforen gehen weiter, ein Sammelband zur Tagung und ein Special Issue zu „Challenges of Interdisciplinary Research in the Field of Critical (Sex/ Gender) Neuroscience“, herausgegeben von Hannah Fitsch, Flora Lysen und Suparna Choudhury in „Frontiers in Sociology und Frontiers in Neuroscience“ sind in Planung. Und Teilnehmer*innen des NG-Netzwerkes bereiten gerade ein sogenanntes Lab-Meeting zu „Holding ourselves accountable: What have we done? What can we do?“ für die Zeitschrift „Catalyst: feminism, theory, technoscience“ vor.
Literatur:
Jordan-Young, Rebecca und Karkazis, Katrina. 2019. Testosterone- An Unauthorized Biography. Harvard University Press.
Kuria, Emily N. 2014. Theorizing Race(ism) while NeuroGendering and NeuroCulturing. In Gendered Neurocultures Feminist and Queer Perspectives on Current Brain Discourses, Hrsg. Sigrid Schmitz und Grit Höppner. Wien: Zaglossus.
Rippon, Gina, Rebecca Jordan-Young, Anelis Kaiser, und Cordelia Fine. 2014. Recommendations for Sex/Gender Neuroimaging Research: Key Principles and Implications for Research Design, Analysis, and Interpretation. Frontiers in Human Neuroscience 8. doi: 10.3389/fnhum.2014.00650.
Roy, Deboleena. 2018. Molecular Feminsims. Biology, Becomings, and Life in the Lab. Washington University Press.
Schmitz, Sigrid, und Grit Höppner. 2014. Gendered Neurocultures: Feminist and Queer Perspectives on Current Brain Discourses. Wien: Zaglossus.
Sigrid Schmitz ist habilitierte Biologin und arbeitet seit mehr als 30 Jahren zu Genderforschung in MINT. Insbesondere hat sie sich auf inter- und transdisziplinäre Lehre zur Wissensproduktion in MINT spezialisiert und zahlreiche Lehrformate an verschiedenen Universitäten (Marburg, Freiburg, Graz, Berlin, Oldenburg, Wien, Linz) in MINT-Fächern konzipiert und durchgeführt. Als Hochschuldozentin an der Universität Freiburg leitete sie das Kompetenzforum „Gender in Informatik und Naturwissenschaften [gin], war Professorin für Gender Studies an der Universität Wien und an der HU Berlin. Derzeit leitet sie das Berliner Teilprojekt im Verbund „Gendering MINT digital“ am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG).