Das Migration Museum in London hat in den letzten Monaten eine Ausstellung über Migration und das Gesundheitswesen gezeigt (siehe den virtuellen Rundgang Heart of the Nation: Migration and the Making of the NHS). Ein Thema, das auch durch die Corona-Pandemie noch einmal an Aktualität gewonnen hat. Auch wenn ich die Ausstellung nur online verfolgen konnte, hat sie einmal mehr die Bedeutung von Arbeitsmigration und von migrantisierter Sorgearbeit in ihren Verflechtungen mit Geschlecht, Klasse, race verdeutlicht, übrigens auch sehr anschaulich über die sozialen Medien.
Während Geschlecht und andere Ungleichheitskategorien durch die aktuelle Migrationsforschung und zunehmend auch historisch für das 20. Jahrhundert untersucht werden, gibt es geschlechterhistorische Studien zu Migrationen im 19. Jahrhundert weitaus seltener. Die erwähnte Ausstellung etwa rückt Pflegekräfte in Großbritannien, ihre biografischen Erzählungen und Fotografien in den Mittelpunkt – im Gegensatz dazu bin ich als Historikerin auf archivalische Quellen angewiesen, wobei die (staatliche) Überlieferung über Migration nur selten auch Ego-Dokumente der Migranten und noch viel seltener der Migrantinnen enthält. Denn Geschlecht, Klasse und race waren nicht nur entscheidend für Migration und Zugehörigkeit im 19. Jahrhundert, sondern beeinflussten auch das, was als archivwürdig galt und bestimmen damit die Forschung bis heute: Denn was kann ich im Jahr 2021 über eine jüdische Frau aus St. Petersburg, die in den 1850er Jahren in Altona und Hamburg arbeitete, überhaupt noch herausfinden? Oder über einen polnischen Arzt in Frankreich zur Mitte des 19. Jahrhunderts? Für umso wichtiger halte ich daher eine Migrationsgeschichtsschreibung, die Geschlecht, Klasse, race und die Akteur*innen in den Mittelpunkt rückt, auch auf theoretisch-methodischer Ebene.
Geschlecht als Kategorie historischer Analyse – auch in der Migrationsgeschichte?!
In ihrer immer noch klassischen Definition beschreibt die US-Historikerin Joan W. Scott das soziale Geschlecht als ein konstitutives Element gesellschaftlicher Beziehungen. Um diesen machtvollen Beziehungen auf die Spur zu kommen, schlägt sie vor, politische Ordnung und soziale Organisationen, Repräsentationsformen, normative Konzepte und subjektive Identitäten zu untersuchen. Analog argumentiert die Migrationshistorikerin Nancy L. Green, dass eine Geschlechtergeschichte der Migration geschlechtsspezifische Konstruktionen und Interaktionen sowohl auf staatlicher als auch auf individueller Ebene sichtbar macht. So kommen Unterschiede zwischen Individuen in den Blick, aber eben auch, wie der Staat einen typischen Migranten, seltener: eine typische Migrantin, definierte.
Doch trotz dieser weitreichenden Erkenntnisangebote ist Geschlecht immer noch keine selbstverständliche Kategorie der Migrationsgeschichte. Umgekehrt befasst sich auch die Geschlechtergeschichte wenig mit Migrationen. Um beide Forschungsrichtungen zu verbinden, nutze ich für meine Arbeiten über innereuropäische Migrationen im 19. Jahrhundert einen intersektionalen Ansatz: Soziale Ungleichheiten verstehe ich als ein System miteinander verschränkter Differenzkategorien, über die Machtverhältnisse konstituiert werden. Geschlecht, race, Klasse, Nationalität, Alter, Religion sind soziale Konstruktionen, um Differenz zu definieren und gleichzeitig Macht herzustellen. Mithilfe eines intersektionalen Modells können diese Differenzkategorien analysiert werden, über die Gesellschaft gestaltet wird.
Migration und (Nicht-)Zugehörigkeit
In meiner Studie „Narratives of Foreignness and Belonging: Migration as a Discursive Process in Western European Border Regions (1800–1871)“ beschäftige ich mich mit europäischen Migrationen im 19. Jahrhundert, denn, so meine These, Migrationen haben Lebenswege, Diskurse und Praktiken und damit gesellschaftliche Ordnungen verändert. An Migrationsprozessen wurden Fragen der – staatlichen, regionalen, lokalen – Zugehörigkeit verhandelt: Menschen konnten sich um Zugehörigkeit bemühen – oder nicht, staatliche Administrationen konnten sie einfordern, gewähren oder verweigern. Ich untersuche also, wer mobil war und warum. Wie gingen Staat, Kommunen und Einheimische mit Migration um? Mit welchen Strategien gelang es Migrant*innen, zugehörig zu werden, wann misslang es? Und welche Rolle spielte dabei Geschlecht in Relation zu anderen Positionierungen?
Meine Forschung zielt darauf, erstens Migration in die Geschichte des 19. Jahrhunderts einzuschreiben und zweitens innerhalb der Migrationsgeschichtsschreibung die Perspektive der Akteur*innen zu stärken. Ich argumentiere, dass Geschlechterverhältnisse und weitere Ungleichheitsdimensionen in die Analyse von Migrationsprozessen einbezogen werden sollten. Nicht zuletzt analysiere ich die Wechselwirkungen mit der ‚anderen‘ Seite der Migration, also dem Bleiben und der Sesshaftigkeit (siehe u. a. Anne Friedrichs).
Um diese Fragen zu beantworten, stehen intersektionale Quellenanalysen im Zentrum meiner Arbeit. Dimensionen der Ungleichheit müssen jedoch historisiert werden (siehe u. a. Griesebner und Hehenberger), das heißt, ich verwende Kategorien, die zu dieser Zeit, an diesem Ort von Bedeutung waren: Geschlecht, Bildung und Klasse. Auch Religion, Sprache, geografische Herkunft bzw. Nationalität sowie race waren entscheidend. In ihrer je spezifischen Verbindung können sie erklären, warum einige ‚Fremde‘ relativ schnell als zugehörig galten, andere hingegen nicht. Es geht also nicht nur um soziale Ungleichheit und Exklusion, sondern immer auch um Privilegien und Inklusion.
Migration und Männlichkeit/en
Dieses Spannungsfeld zeigt sich unter anderem an Vorstellungen und Narrativen von Männlichkeit. Geschlechterhistorische Studien belegen, dass die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als männlich definiert wurde und dazu berufliche, politische und sexuelle Subjektivitäten und Lebenswelten als männlich und zugleich als Norm konstruiert wurden (siehe Martina Kessel). Lebenswege von Migrantinnen unterschieden sich in dieser Hinsicht wesentlich von männlicher Mobilität – und sind zugleich in der staatlichen Überlieferung spärlicher sichtbar. Und von Menschen, die sich dieser heteronormativen Vereindeutigung entzogen oder verweigerten, wissen wir aus dieser Epoche noch weniger.
Gleichzeitig waren Migration und Sesshaftigkeit mit Idealen von Männlichkeit verbunden. Die Vorstellung hegemonialer Männlichkeit, wie es Raewyn Connell nennt, war mit Konzepten von Klasse, race, Heteronormativität, Sesshaftigkeit und Staatsbürgerschaft verknüpft. Demgegenüber konzentrierten sich historische Debatten über mobile Männer oft auf junge und arme Migranten als vermeintliche Bedrohung von Recht und Ordnung (so bspw. Paul Scheibelhofer). In Abgrenzung zu dieser marginalisierten Männlichkeit versuchten viele Migranten sich als Teil einer hegemonialen Männlichkeit darzustellen. Sie betonten in ihren Briefen an die staatlichen Behörden spezifische Fähigkeiten, finanzielle Ressourcen oder funktionierende Netzwerke, über die sie verfügten, oder die Heirat mit einer einheimischen Frau. So passten sich Migranten in das entstehende Bild des Staatsbürgers ein, der männlich, weiß, heterosexuell und bürgerlich imaginiert wurde.
Vielen Quellen, die ich auswerte, liegt die Aushandlung migrantischer Männlichkeit als Subtext zugrunde, da Migranten häufig versuchten, sich in die hegemoniale Männlichkeit einzuschreiben, also bestimmten Normen genügen wollten bzw. mussten und diese zugleich reproduzierten. Nicht zuletzt die Untersuchung von Männlichkeit/en illustriert, dass und wie Migrationsprozesse und Migrationsregime im 19. Jahrhundert vergeschlechtlicht waren.
Levke Harders ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bielefeld. Von 2016 bis 2021 wurde ihr Forschungsprojekt „Geschichten von Fremdheit und Zugehörigkeit. Migration als Aushandlungsprozess in westeuropäischen Grenzregionen (1815-1871)“ an der Universität Bielefeld von der DFG gefördert (siehe ihren projektbegleitenden Blog). Sie war eine der ersten Absolventinnen des Studiengangs Gender Studies und assoziiertes Mitglied des Graduiertenkollegs „Geschlecht als Wissenskategorie“ an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Beitragsbild:
aus Signatur Nr. 208: J.G. Adlers brevbøger, Rigsarkivet, Kopenhagen (2017), Foto: Levke Harders