Institutioneller Rassismus jenseits des NSU-Komplex als Herausforderung für das Recht

Der Beitrag erschien ursprünglich in ähnlicher Form am 31.10.2019 auf dem Blog der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte, dem grundundmenschenrechtsblog

An der Humboldt-Universität widmet sich der Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien dem Recht als einerseits diskriminierende Struktur und andererseits als Mittel gegen Diskriminierung. In der am Lehrstuhl angesiedelten Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte (HLCMR) arbeiten Studierende aus den Rechtswissenschaften und den Gender Studies transdisziplinär im engen Austausch mit Nichtregierungsorganisationen, Verbänden und weiteren Akteur*innen an konkreten Fällen mit direktem Praxisbezug. Das Ziel der HLCMR ist dabei, Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen in Europa und global, aber insbesondere in Deutschland zu analysieren und zu diskutieren sowie an juristischen Lösungsmöglichkeiten zu arbeiten.

1989 prägte die Schwarze Juristin und Aktivistin Kimberlé Crenshaw den Begriff der Intersektionalität, um auf die spezifische Diskriminierung von Schwarzen Frauen hinzuweisen. Demnach, reicht es nicht aus, einzelne Diskriminierungsverhältnisse isoliert zu betrachten. Vielmehr haben insbesondere Schwarze Frauen wie Sojourner Truth oder das Combahee River Collective bereits früh auf Zusammenhänge unterschiedlicher Diskriminierungskategorien, wie Race und Gender, hingewiesen. Während die Gender Studies von Beginn an zu einem breiten Wissen über geschlechtsspezifische und später auch intersektionale Diskriminierung beigetragen haben, fehlt es insgesamt in Deutschland an Wissen und Forschung zu Rassismus in verschiedenen Bereichen, wie dem Recht und in der Justiz.

Um dieses Thema auch im universitären und wissenschaftlichen Kontext präsenter zu machen, hat sich die Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte am 22.10.2019 zum zweiten Mal in einer Veranstaltung mit institutionellem Rassismus beschäftigt. Nachdem die erste Veranstaltung einen Fokus auf institutionellen Rassismus am Beispiel des NSU-Prozesses legte, beschäftigten sich Joshua Kwesi Aikins (Politikwissenschaftler), Saraya Gomis (Lehrerin und ehemalige Antidiskriminierungsbeauftragte) und Prof. Dr. Juliane Karakayali (Soziologin an der Evangelischen Hochschule Berlin) sowie Maryam Haschemi Yekani (Rechtsanwältin und Koordinatorin des Berliner Netzwerks gegen Diskriminierung an Schulen und Kitas (BeNeDiSK)) dieses Mal mit institutionellem Rassismus im Bildungssystem. Im Fokus stand dabei die Frage, wo es Überschneidungen zwischen Rassismus im Bildungssystem mit Rassismus innerhalb juristischer Institutionen gibt und in welcher Weise die vorhandene Forschung aus dem Bildungsbereich auf juristische Institutionen übertragen werden kann.

Seit 1966 ist die Bundesrepublik Deutschland durch die Ratifizierung der Anti-Rassismus-Konvention (ICERD) verpflichtet, alle Menschen in ihrem Hoheitsgebiet vor allen Formen der rassistischen Diskriminierung zu schützen. Doch die Ermittlungen und die Aufarbeitung des NSU-Komplexes haben besonders deutlich gezeigt, wie groß das Problem mit institutionellem Rassismus in Deutschland ist. Dieser strukturell verankerte Rassismus in Deutschland ist auch einer der zentralen Kritikpunkte in allen Parallelberichten an den UN-Antirassismus-Ausschuss im Jahr 2015.

Was war das Ziel der Veranstaltung?

Bei der Beseitigung von rassistischer Diskriminierung stellt die Bekämpfung von institutionellem Rassismus einen wichtigen Bestandteil dar. Die Bekämpfung institutionellen Rassismus` ist ein komplexes Thema, das bis jetzt unter anderem aus juristischer Perspektive nicht ausreichend wissenschaftlich behandelt wurde. Vielmehr bedarf es in diesem Bereich weiterer praxisbezogener Forschung.

Im Bildungsbereich liegen im Gegensatz zu den juristischen Einrichtungen und der Rechtswissenschaft bereits erste empirische Forschungsergebnisse zu dem Thema vor. Das Hauptanliegen der Veranstaltung war es, von diesen Erfahrungen zu lernen. Um weitere Forschung zu erleichtern, ist es vor allem interessant, sich anzuschauen, wie die Forscher*innen den Begriff des institutionellen Rassismus definieren und welche Forschungsmethoden sie dabei anwenden.

Was ist institutioneller Rassismus?

Prof. Dr. Juliane Karakayali zufolge muss die erste Frage in zwei Unterfragen aufgeteilt werden: Was ist eine Institution? Und wie wird Rassismus definiert? Die Soziologie betrachtet den Begriff „Institution“ als in die Struktur geronnene soziale Verhältnisse in Form einer Organisation, die das Handeln der Menschen grundlegend bestimmt.

Artikel 1 der Anti-Rassismus-Konvention definiert rassistische Diskriminierung als „jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird“. Rassistische Diskriminierung liegt nach dieser Definition also auch dann vor, wenn eine Handlung lediglich zur Folge hat, dass es zu einer Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung entlang rassistischer Kategorien und Merkmale kommt. In diese Rassismusdefinition sind somit auch formal neutrale Handlungen eingeschlossen, die, ob bewusst oder unbewusst, rassistische Diskriminierung zur Folge haben. Auch Deutschland hat die UN Anti-Rassismus-Konvention unterschrieben und sich damit verpflichtet, rassistische Diskriminierung auf Grundlage dieser Definition zu bekämpfen.

Ein Beispiel für eine Institution ist das Schulsystem, das von allen Schulen gemeinsam gebildet wird. Ein Beispiel wiederum für im Schulsystem bestehende rassistische Diskriminierung ist ein nordrhein-westfälisches Schulgesetz, das für die Aufnahme in die Schule eine gültige Aufenthaltserlaubnis voraussetzt. Somit wird die Schulpflicht von asylrechtlichen Bestimmungen verdrängt, sodass die asylsuchenden Kinder oft nahezu ein Schuljahr verpassen. Darüber hinaus sind für die Aufnahme in eine reguläre Klasse Deutschkenntnisse obligatorisch. In die BRD neu eingereiste internationale Schüler*innen werden Vorbereitungsklassen zugewiesen, um Deutsch zu lernen. Allerdings bekämen die Vorbereitungsklassen, laut Prof. Karakayali, deutlich weniger qualifizierte Lehrkräfte. Somit werden in Rede stehende Personengruppen aufgrund ihrer Herkunft vom Schulsystem unterschieden und benachteiligt.

Zusätzlich führten die Podiumsgäste aus, dass es in Berlin eine rassistische Segregation von Klassen und Schulen anhand des in Berlin im Jahr 1995 eingeführten Begriffs „ndH‘‘ („Schüler*innen nichtdeutscher Herkunftssprache“) gebe.

Rassismus von Intentionen trennen!

An diesen Beispielen zeigt sich symptomatisch, wie auch alle Diskussionsteilnehmer*innen übereinstimmend bestätigten, dass die Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus in Deutschland unzureichend ist. Bei der Frage nach den Gründen ist die naheliegende und prinzipiell richtige Antwort, dass die Auseinandersetzung mit Rassismus in Deutschland im Allgemeinen unzureichend ist. Joshua Kwesi Aikins rückte zusätzlich in den Fokus, dass Rassismus immer noch häufig ausschließlich anhand individueller Äußerungen, Taten und Intentionen verhandelt wird. Diese Koppelung von Rassismus an individuelles Verhalten macht es in gesellschaftlichen Diskursen häufig schwer, über die strukturelle und institutionelle Verankerung von Rassismus zu sprechen.

Auch Saraya Gomis beschrieb aus ihren Erfahrungen als Lehrerin und ehemalige Antidiskriminierungsbeauftragte, dass es große Probleme gibt, institutionellen Rassismus innerhalb der Schule als Problem zu vermitteln, da häufig die entscheidende Analysekompetenz unter weißen Verantwortlichen fehlt. So verfüge das Lehrpersonal in den Schulen nicht über ein ausreichendes Bewusstsein bezüglich Diskriminierung. Einige Lehrer*innen würden im Schulunterricht rassistisch diskriminierende Wörter wie das N-Wort oder die rassistische Bezeichnung für Sinti*zze und Rom*nja benutzen. Selbst bei den Schulhilfekonferenzen würde das Thema institutioneller Rassismus reflexhaft zurückgewiesen. Außerdem würden in Analyserunden bestimmte Vorfälle lediglich einzelfallbezogen diskutiert, ohne das Problem des institutionellen Rassismus zu diskutieren.

Dieses Phänomen, gesellschaftliche und strukturelle Probleme ausschließlich auf individueller Ebene zu diskutieren, findet seine Entsprechung auch im deutschen Rechtssystem, welches ganz überwiegend auf der Konzeption individueller Schuld und Zurechnung basiert. Dies führt dazu, dass selbst in Fällen, in denen der institutionelle Rassismus so offensichtlich vorhanden ist wie im Kontext der Ermittlungen rund um den NSU-Komplex, dieser nicht vor Gericht verhandelt wird bzw., wie zuletzt im Fall des Mordes an Oury Jalloh, eine juristische Aufarbeitung gänzlich verhindert wird.

Auch Maryam Haschemi Yekani hat als Rechtsanwältin die Erfahrung gemacht, dass Rassismus vor Gericht nur als Problem be- und verhandelt wird, wenn es sich um „offenen“ Rassismus handelt. In der Folge bleibe es dann zum Beispiel unhinterfragt, dass bei Auseinandersetzungen auf dem Schulhof, an denen rassifizierte Jugendliche beteiligt sind, die Polizei gerufen wird, um sogenannte Störer*innenansprachen bei 11-Jährigen durchzuführen. Eine Praxis, die gegenüber weißen Schüler*innen kaum vorstellbar wäre. Doch es fehlt – darauf wies auch Saraya Gomis hin – die Expertise und die Bereitschaft zu erkennen, wie sich dieser Vorfall in das kolonialrassistische Bild von rassifizierten Menschen als Bedrohung, Gefahr und Kriminelle einreiht. Ein Bild, das unter anderem die unterschiedlichen Praktiken des over-policing Schwarzer Menschen und People of Color, wie racial profiling, zur Folge hat.

Wenn nur ,offener‘ Rassismus von Institutionen als Rassismus anerkannt wird, zeigt das, dass die relevante und unhinterfragte Perspektive zur Bewertung von Rassismus in Deutschland immer noch eine weiße Perspektive ist. Für PoC und Schwarze Menschen in Deutschland gehören die eben dargestellten vermeintlich ,versteckten‘ oder ,subtilen‘ rassistischen Mechanismen zum Alltag und sind nicht nur seit langem bekannt, sondern werden auch kontinuierlich an die Öffentlichkeit gebracht. Beispielhaft können hier die Parallelberichte, an denen auch Joshua Kwesi Aikins beteiligt war, die Arbeit der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt und das Tribunal NSU-Komplex Auflösen benannt werden. Dass diese Berichte und Erfahrungen von PoC’s und Schwarzen Menschen in einer breiten Öffentlichkeit kaum Beachtung finden, ist wiederum Teil des Problems einer strukturell rassistischen Gesellschaft und von Institutionen, in denen nicht-weiße Perspektiven quasi nicht vorkommen.

Die Perspektive erweitern!

Dass die Reduktion von Rassismus auf individuelles Verhalten dem Problem nicht gerecht wird, machten die Diskussionsteilnehmer*innen wiederholt deutlich und verwiesen dabei erneut auf die UN-Antirassismuskonvention. Es ist mehr als überfällig, dass Deutschland deren Definition von Rassismus als Grundlage für die Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus tatsächlich anwendet. Es wird Zeit, dass das Wissen und die Expertise von Menschen mit Rassismuserfahrungen anerkannt und dieses auch finanziell gefördert wird. Es wird Zeit, dass anhand dieser Expertise rassistische Konzepte wie die Kategorisierung ,ndH‘ und Gesetze und Vorschriften, die racial profiling ermöglichen, abgeschafft werden. Es ist Zeit, dass, wie Saraya Gomis forderte, Aufsichtsbehörden, wie beispielsweise die Schulinspektion, die notwendige Analysekompetenz entwickeln, um Rassismus zu erkennen. Aber – und auch das wurde während der Podiumsdiskussion deutlich – es ist auch notwendig, dass weiße Menschen, die in diesen Institutionen tätig sind, sich mit ihrem Rassismus und dem rassistischen System, in das ihre Institution eingebettet ist, auseinandersetzen.

 

Johannes Mikolajetz studiert Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, ist studentischer Mitarbeiter und Teilnehmer des aktuellen Zyklus der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte. Zuvor absolvierte er einen B.A. in Sozialer Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin.

Eka Papiashvili studiert Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist studentische Mitarbeiterin und ehemalige Teilnehmerin der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte.

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