Du bist, was du isst – dieses Motto hätte eine gute Überschrift für das zweitägige Kolloquium „Die gute Mahlzeit. Gender und Ernährung transdisziplinär“ sein können, das vom ZtG organisiert am 11. und 12. November 2022 im Senatssaal der HU stattfand. In vielfältiger Weise wurde der Frage nach der (Re)Produktion gesellschaftlicher Ordnung(en) in und durch Ernährung nachgegangen. Beleuchtet wurden symbolische, künstlerische, literarische, wissenschaftliche sowie materialistische verteilungspolitische Verknüpfungen von Ernährungs- und Geschlechterverhältnissen. Der Appetit auf das Thema wurde definitiv geweckt.
Männliches Essen
Was wir (nicht) essen, ist weit weniger rein individuelle Vorliebe als Produkt und (Re)Produktion gesellschaftlicher Ordnungen, nicht zuletzt der Geschlechterordnung, und das auch nicht unbedingt nur auf subtile Art und Weise, sondern mitunter auch ganz offen und mit direktem politischem Bezug. So zeigte Helen Keller in ihrem Beitrag mit dem ausdrucksstarken Titel „‘Eat like a man, man!‘- Männlichkeitskrise, Fleischkonsum und die Rückkehr zum Animalischen“ anhand aktueller populärer Werbeclips für Fleischprodukte, wie hier sehr explizit Männlichkeit mit dem Konsum von Fleisch verknüpft wird. Dies wird gerahmt in ein vergeschlechtlichtes binäres Kultur-Natur-Schema, in dem männlicher Fleischkonsum als Ausdruck einer von feminisierter Kultur unterdrückten Natur dargestellt wird. Interessant ist, dass sich teilweise direkt auf die Frauenbewegung bezogen wurde – in veralbernder, abgrenzender Weise.
Männliches Nicht-Essen
Von der frühen Frauenbewegung grenzten sich auch die US-amerikanischen Deserteure ab, von denen Maximilian Buschmann in seinem Vortrag unter dem Titel „‘…as much as the men in the trenches‘. Hungerstreiks gegen Kriegsdienst und die Sorgen um Männlichkeit in den Vereinigten Staaten, 1917-1920“ berichtete. Diese nutzten mit dem Hungerstreik eine politische Protestform, die durch die Suffragetten und deren Kampf für Frauenrechte populär wurde. Doch fand hier keine Solidarisierung statt, sondern eine explizite Abgrenzung zur Absicherung der eigenen Männlichkeit, welche durch das Verweigern des Kriegsdienstes und das Nutzen einer bis dato weiblich konnotierten Protestform als prekär empfunden wurde. Der Beitrag von Martin Winter zeigte, wie vegan lebende Männer den scheinbaren Widerspruch zu der von Helen Keller besprochenen fleischhungrigen hegemonialen Männlichkeit kitten. Fleisch wird in den hier vorgestellten Ernährungskulturen durch Protein ersetzt, welches die Funktion des Männlichkeitsproduzenten und -markers übernimmt.
Wissenschaftliches Essen
Dabei ist auch bemerkenswert, wie eine komplexes, natur- bzw. ernährungswissenschaftliches Konstrukt wie das Protein Eingang in allgemein verbreitetes Alltagswissen findet und hier handlungsleitend wird. Das Gleiche lässt sich über die Kilokalorie sagen, über deren Geschichte Nina Mackert berichtete. Sie zeigte in ihrem Beitrag anhand historischen Materials, wie – quasi gegen Widerstand der eigenen erhobenen Daten – die Ernährungswissenschaft der frühen 20er Jahre in den USA vergeschlechtlichte Körper mit geschlechtlich verschiedenen Kalorienumsätzen produzierte, wobei geschlechternormierende Vorstellungen die Forschung von der Fragestellung bis zur Auswertung der Daten durchzogen.
Andere essen
Männlichkeitsproduktion durch Ernährung erörterte auch der Beitrag von Eva Bischoff, welcher darstellte, wie über den Topos des Kannibalismus in der Zeit der Weimarer Republik eine ‚wilde‘ Männlichkeit konstruiert wurde, die als Abgrenzungsfolie zum zivilisierten, modernen Subjekt diente. Dabei gab es in diesem kolonialistischen Diskurs auch die Figur des weißen Menschenfressers, der als psychopathologisches, kriminelles und anachronistisches Phänomen auf die ‚wilde‘ Natur in den verborgenen und verdrängten Tiefen der Zivilisation verwies. Auch der Beitrag von Stefanie von Schnurbein zeigte literarische Reproduktionen kolonialrassistischer Stereotype über Essverhalten und Körperbilder am Beispiel der dänischen Autorin Karen Blixen.
Psychologische Deutungen des Kannibalismus-Topos lieferte auch Christian Kassung in seiner freudianisch inspirierten Lesart von Peter Greenaways „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“. Kassung beleuchtete die Bedeutungen und die multisensorische Wirkung verschiedener Räume und Arten des Essens auf das Publikum in diesem eigenwilligen Film. Dessen Grande Finale stellt ein kannibalisches Festmahl dar, in dem ein Gewalttäter aus Rache gezwungen wird, eines seiner Opfer zu essen.
Mit Anderen essen
Dieses Festmahl im Greenaway-Film, das den Triumph der Opfer über einen Gewaltherrscher auf makabre Weise zelebriert, wäre auch ein gutes Beispiel gewesen für Gabriele Dietzes Ausführungen zur kulturellen Bedeutung des Festmahls. So zeigte sie anhand historischer und aktueller Beispiele, wie die kulturelle Praxis des üppigen gemeinsamen Essens als Ablenkung, Trost und/oder (vermeintliche) Siegesfeier, z.B. über die Corona-Pandemie, dient und wie über das Ausrichten und Einladen zu einem Festmahl Zugehörigkeiten und Hierarchien reproduziert wurden und werden.
Die Frage, wer mit wem zu welchem Anlass speist, ist wiederum zentral für Leonie Stenskes Arbeit zur Bedeutung des Essens für die Konstruktion einer muslimischen Kultur am Beispiel des Essens in Kindertagesstätten. Der Vortrag machte deutlich, wie bedeutsam die (Un-)Möglichkeit des Mit-Essen-Könnens für Fragen der gleichberechtigten gesellschaftlichen Partizipation ist.
Wo kommt das Essen her?
Was nicht unter den Esstisch fallen sollte, ist die Frage der Produktions- und Verteilungsbedingungen von Mahlzeiten. So beschäftigte Carla Wember sich mit queeren Perspektiven in der Landwirtschaft. Meike Brückner zeigte anhand des Afrikanischen Indigenen Blattgemüses die Auswirkungen von Kolonialismus auf Lebensmittelproduktion und -konsum und verdeutlichte die Rolle von Frauen für die private wie gesellschaftliche Ernährungsversorgung in Kenia. Damit wurde einmal mehr die Linie erkennbar, die den privaten Teller mit der globalen Weltpolitik verbindet. Daran knüpfte auch Desiree Zwanck in ihrem Beitrag „Füllhorn Frau. Internationale Ernährungssicherung zwischen Realität und Öffentlichkeitsarbeit“ an. Zwack beleuchtete die Position von Frauen als größten Opfern von unfreiwilligen Hungersituationen und gleichzeitig zentralen Akteurinnen möglichen Wandels. Deutlich wurden die vielfältige Bedeutung von Geschlecht für individuelle und globalpolitische Ernährungsversorgung und die Notwendigkeit, Geschlecht in der Ernährungspolitik zu berücksichtigen, sowie das Potential gender-transformativer Bildung.
Digestif
Zum Abschluss des Symposiums wurde hervorgehoben, dass neben den verschiedenen Ausführungen zur Produktion von Männlichkeit Betrachtungen zur Produktion von Weiblichkeit via (Nicht-)Essen vielversprechend wären sowie Überlegungen zu demonstrativem Essen als Protestform, zum Beispiel im Kontext von fat activism, quasi als Gegenstück zum Hungerstreik.
Ein weiterer Diskussionsstrang ging der Frage nach, welche Körperbilder in diesem Themenfeld relevant sind. So wird Hunger zumeist mit schmalen, mageren Körpern assoziiert, wodurch aber Phänomene wie „Unsichtbarer Hunger“, ebenso in gewisser Weise ein Gegenstück des demonstrativen Hungerstreiks, aus dem Fokus geraten. Mit diesem Begriff wird das Phänomen beschrieben, dass Menschen aufgrund fettreicher, aber nährstoffarmer Ernährung zwar ein durchschnittliches oder gar hohes Körpergewicht aufweisen und trotzdem an lebensbedrohlichem Nährstoffmangel leiden können. Auch gibt es vielfache vergeschlechtlichte, rassifizierende und klassistische Zuschreibungen, die mit dicken oder dünnen Körpern und bestimmten Ernährungsformen verknüpft sind und die Gegenstand weiterer kritischer Analyse sein sollten.
Corinna Schmechel hat Gender Studies in Berlin studiert und promovierte an der LMU München zu Körpernormen in der queeren Subkultur. Seit 2020 arbeitet sie in im Fachbereich ‚Gender & Science‘ an der Humboldt-Universität zu Berlin zu Geschlecht in der quantitativen Gesundheitsforschung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Körperpraktiken, Körperbilder, Geschlecht und Diversität im Sport sowie Medizinsoziologie.