Die „Gläserne Decke“ der DDR-Industrie: Sex und die Gründe, warum Frauen seltener Chefinnen waren als Männer

Wer sich mit der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der DDR beschäftigt, kommt nicht um die Frage nach der „Gläsernen Decke“ herum. Auch in der DDR existierten strukturelle Hürden, die dafür sorgten, dass Frauen nicht in der Zahl in Führungspositionen aufstiegen, wie Männer es taten – dem politischen Postulat der Gleichstellung von Frauen und Männern maßgeblich durch Lohnarbeit zum Trotz. Viele Bestrebungen, Frauen zu „Leitern“ zu machen, wie es in der nicht gegenderten Sprache der DDR hieß, erinnern an heutige Maßnahmen: Es ging um zahlenmäßige Veränderungen, wie etwa im VEB Leuna-Werke, einem Chemiekombinat bei Halle, wo 1969 laut einem Beschluss im Betriebskollektivvertrag in den Jahren 1969 und 1970 100 Frauen in leitende und mittlere Funktionen eingesetzt werden sollten. Grund dafür war, dass bisher nur sehr zögerlich Frauen in Leitungsfunktionen eingestellt wurden. Auch die interaktive Ebene wurde bereits berücksichtigt: In den 1970er-Jahren gab es vereinzelte sozialpsychologische Trainingsformate, die an heutige Coachings erinnern. Psycholog*innen entwickelten mehrtägige Seminare explizit für Leiterinnen, in denen sie – wie es in einer psychologischen Publikation von Kaftan 1971 heißt -– durch Rollenspiele lernen sollten, „ihre anerzogenen und erworbenen Einstellungen zur Rolle der Frau im gesellschaftlichen Leben, ihre[…] angeblich minderen Fähigkeiten und all die daraus resultierenden vielschichtigen Hemmungen“ hinter sich zu lassen. Auch in gemischtgeschlechtlichen Trainings für Leiter*innen, die unter anderem in den Leuna-Werken stattfanden, thematisierten Psycholog*innen explizit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Frauen in der DDR waren somit – gerade im Vergleich mit der Bundesrepublik zu der Zeit – in Leitungspositionen vieler Industriebetriebe vertreten. Ein paritätisches Verhältnis war jedoch zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd erreicht: 1960 hatten in den insgesamt 1.570 Industriebetrieben nur 502 Frauen Leitungspositionen inne. Anfang der 1970er-Jahre erhöhte sich die Zahl zwar, so waren 1976 knapp 35.000 von 200.806 Leiter*innen in der DDR-Industrie Frauen, in den 1980er-Jahren stieg die Zahl aber nur gering an: Leiterinnen in der Industrie machten etwa 20 Prozent des Führungspersonals aus.

Leiterin sein – eine attraktive Perspektive?

Der Frage nach den Ursachen haben sich in den letzten Jahrzehnten zahlreiche, vor allem weibliche Historiker*innen angenommen. Als ersten und wichtigsten Grund machten sie aus, dass für viele Frauen Leitungspositionen schlicht nicht attraktiv waren. Sie versprachen nicht zwangsläufig ein deutlich höheres Gehalt, erforderten stattdessen jedoch politische Loyalitäten, die oft vor allem zeitliche Ressourcen für politische Ämter, Funktionen und die Teilnahme an zahlreichen Sitzungen verlangten. Gerade Akademikerinnen wählten nach Budde erstens oft Stellen als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, in denen ein Aufstieg unwahrscheinlich war, schlicht um sich dem Druck zu entziehen, den die Tätigkeit als Leiterin mit sich brachte. Zweitens waren Frauen in der partnerschaftlichen Praxis weiterhin maßgeblich verantwortlich für die Reproduktionsarbeit, sodass eine Position mit Verantwortung oft, trotz gut ausgebautem Kinderversorgungssystem, nur unter hohen Belastungen durchführbar war. Drittens wurden Frauen immer wieder mit sexistischen Stereotypen konfrontiert, die ihnen den Arbeitsalltag erschwerten und die oft verhinderten, dass Frauen als geeignet für leitende Positionen, gerade in technischen Bereichen, angesehen wurden.

Sexualisierte Netzwerk- und Geschäftspraktiken als Ausschlussfaktor

Ein weiterer, bislang weniger berücksichtigter, gleichfalls aber maßgeblicher Grund wird erst deutlich, wenn man zur Untersuchung der Rolle von Geschlecht auch Sexualität hinzuzieht: Gemeint ist nicht Sexualität nicht im Sinne einer Differenzkategorie, sondern mit Sexualität verknüpfte Praktiken. In Industriebetrieben existierten gerade auf leitender Ebene – der wiederum überwiegend Männer angehörten – vergeschlechtlichte, bzw. vor allem sexualisierte Praktiken: Diese reichten vom gemeinsamen exzessiven Alkoholkonsum über das Sprechen über die jeweiligen außerehelichen sexuellen Verhältnisse bis hin zum Besuch von Striptease-Lokalen oder gar dem Konsum anderer sexueller Dienstleistungen auf Dienstreisen etwa zur internationalen Frühjahrs- oder Herbstmesse in Leipzig. Da diese Praktiken zum Teil mit der sozialistischen Moral, den ehelichen Absprachen, den betrieblichen Vorgaben oder gar dem Gesetz in Konflikt standen, erzeugten sie bzw. das Wissen um sie Vergemeinschaftung und Vertrauen unter Kollegen und Geschäftspartnern. Sie waren gleichzeitig genau deswegen auch ein Mittel sozialer Kontrolle, um eigene Vorteile und Machtpositionen im beruflichen Umfeld abzusichern.

Inoffizielle Mitarbeiter als sexistisches Netzwerk

Derartige Praktiken unterschieden sich allerdings kaum von denen der ‚Geschäftsmänner‘ aus anderen Ländern. Einen DDR-spezifischen Faktor bei dieser sexualisierten Netzwerkbildung spielten jedoch die ‚Inoffiziellen Mitarbeiter‘ (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit – auch wiederum überwiegend männlich in diesem Bereich –, die ihren sogenannten Führungsoffizieren über ihre Kollegen berichteten und informelle homosoziale Netzwerke bildeten. Diese bestanden parallel zu kollegialen Netzwerken sowie den offiziellen Machthierarchien der staatlichen Leitung oder gar der Organisationen der SED im Betrieb (die derartige Netzwerke nicht immer freudig begrüßten) und verstärkten eine sexistische Betriebskultur. Die Akten dieser IM sind es, die heute hauptsächlich Aufschluss über die sexualisierten Praktiken auf Leitungsebene geben. Sie zeigen auch, dass weibliche Angestellte auf Leitungsebene an sexualisierten Netzwerkpraktiken kaum partizipierten; so bleiben entsprechende Kolleginnen in den Berichten der ‚Inoffiziellen Mitarbeiter‘ weitgehend unsichtbar. Weniger waren sie, insofern sie trotz der beschriebenen Hürden dieselbe Leitungsebene erreicht hatten, von solchen Praktiken explizit ausgeschlossen, sondern mögen sich in vielen Fällen zur Teilnahme an bestimmten Praktiken schlicht nicht angesprochen gefühlt haben.

Struktureller Sexismus

All diese verschiedenen Ebenen schließlich zusammen betrachtet, also die Mehrfachbelastung von Frauen, die Konfrontation mit sexistischen Stereotypen sowie die implizit exklusiven Netzwerkpraktiken, verdeutlichen die Existenz eines sich stets reproduzierenden strukturellen Sexismus, an dem einzelne „Maßnahmen“ nichts oder nur wenig ausrichten konnten. Es zeigt, was auch heute noch wichtig ist, um Frauen in Führungspositionen zu fördern: Um Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen, muss auf verschiedenen Ebenen angesetzt und es müssen Maßnahmen zur Gleichstellung mit einem Kulturwandel in der Arbeitswelt verknüpft werden.

 

Literatur

Budde, Gunilla-Friederike: Frauen der Intelligenz. Akademikerinnen in der DDR 1945 bis 1975, Göttingen 2003.

Kaftan, Burkhardt: Ein möglicher praktischer Ansatz sozialpsychologischen Trainings sozialistischer Leiter, in: Vorwerg, Manfred (Hg.): Psychologische Probleme der Einstellungs- und Verhaltensänderung, Berlin 1971, S. 100–109.

Zachmann, Karin: Mobilisierung der Frauen. Technik, Geschlecht und Kalter Krieg in der DDR, Frankfurt am Main/New York 2004.

 

Titelbild:
Bundesarchiv, Bild 183-62020-0001 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons

 

Henrike Voigtländer ist Historikerin und schrieb ihre Doktorarbeit am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden zur Rolle von Geschlecht und Sexualität in DDR-Industriebetrieben. In ihrer Forschung widmet sie sich neben der Untersuchung von Sexismus am Arbeitsplatz auch der Erforschung der extremen Rechten in der DDR. Seit August 2022 arbeitet sie im Büro der zentralen Frauenbeauftragten und koordiniert die Projekte GeCo-Gender Consulting und METIS Gender Equality and Family Friendliness.