Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch im Wahlkampf: Der Fall Polen

Am 15. Oktober finden in Polen Parlamentswahlen statt. Laut Wahlumfragen liegt erneut die rechtskonservative PiS-Partei (dt. Recht und Gerechtigkeit) vorn, die Polen bereits seit 2015 regiert und bekannt ist für das Untergraben der Rechtsstaatlichkeit sowie für Angriffe auf reproduktive Rechte und LGBTQI-Personen im Rahmen ihrer Anti-gender-Politik. Beobachter*innen befürchten, dass es nahezu unmöglich sein wird, die von der PiS eingeführten Änderungen rückgängig zu machen und die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen, sollte die Partei weitere vier Jahre an der Macht bleiben.

Obwohl das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ein immer wiederkehrendes Thema in den polnischen Wahlkämpfen ist, war es nie ein Thema, das die beiden größten Parteien der letzten 20 Jahre wesentlich voneinander unterschied. Die beiden dominierenden Parteien, die PiS (regierte 20052007 und seit 2015) und die Mitte-Rechts-Partei Bürgerplattform (PO, regierte 20072015), vertraten traditionell ähnliche Ansichten hinsichtlich moralischer Themen und sie sprachen damit beide die mehrheitlich katholische Wähler*innenschaft an. In dem diesjährigen Wahlkampf ist dies anders. Mehrere Parteien haben erklärt, dass die Liberalisierung der Abtreibungsrechte eine hohe Priorität in ihrer Politik haben würde. Mit diesem Wandel versuchen die Parteien die gesellschaftlichen Kontroversen aufzugreifen, die auf das Urteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2020 folgten. Die hieraus resultierenden Einschränkungen im Abtreibungsrecht haben zu der größten landesweiten Protestwelle seit dem Fall des Kommunismus geführt.

Erstmals ist das Abtreibungsrecht somit ein Thema, das die Parteien im polnischen Mehrparteiensystem klar voneinander unterscheidet. Allerdings stellen die Liberalisierungsvorschläge weniger einen Sinneswandel der Parteiführungen als vielmehr ein strategisches Mittel dar, um den Unmut über die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes zu kanalisieren und so die Wahl zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Angesichts der Bedeutung der Wahlen für die Zukunft der polnischen Demokratie gilt es deshalb, sich die Diskussion um das Abtreibungsrecht in Polen genauer anzusehen, um zu verstehen, welche Funktion das Thema im Wahlkampf hat und inwiefern es den Ausgang der Wahlen beeinflussen könnte.

Die Änderungen in der Abtreibungsgesetzgebung

Im Laufe der Geschichte des modernen polnischen Staates (seit 1989) wurde die Abtreibungsgesetzgebung mehrfach geändert, wobei vor allem drei legislative Lösungen diskutiert wurden.

Die erste war das Familienplanungsgesetz von 1993, das unter dem Einfluss der katholischen Kirche eingeführt wurde und den ehemals – unter sozialistischer Herrschaft – liberalen Zugang zur Abtreibung einschränkte. Dieses Gesetz wird häufig als „Abtreibungskompromiss“ bezeichnet und sah legale Schwangerschaftsabbrüche in drei Fällen vor: 1) wenn die Schwangerschaft eine Bedrohung für das Leben oder die Gesundheit der Frau darstellte, 2) bei einer hohen Wahrscheinlichkeit einer „schweren und irreversiblen Beeinträchtigung“ des Fötus oder einer unheilbaren, lebensbedrohlichen Krankheit, und 3) wenn die Schwangerschaft aus einer verbotenen Handlung resultierte.

Das Gesetz von 1993 blieb bis in die unmittelbare Gegenwart fast durchgängig in Kraft. Nur kurzzeitig gab es 1996 eine Liberalisierung der Gesetzeslage, die Schwangerschaftsabbrüche auch aus sozialen Gründen erlaubte. Das Verfassungsgericht erklärte dies 1997 jedoch für verfassungswidrig. Die Hoffnung auf eine Liberalisierung des Gesetzes von 1993 ist damit aber nicht erloschen und stellt somit die zweite legislative Lösung dar.

Die dritte Lösung sieht schließlich eine Einschränkung des „Abtreibungskompromisses“ vor. So wurde bereits in den Jahren 2007 und 2016 versucht, das Gesetz von 1993 zu verschärfen. All diese Versuche wurden jedoch vom Parlament abgelehnt. Das Gesetz von 1993 blieb bis zum besagten Urteil des Verfassungsgerichts , welches die PiS mittels umfangreichen Justizreformen bereits 2015 unter eigene Kontrolle gebracht hatte, in Kraft. Diesem Urteil vom 22.10.2020 zufolge ist es nun verfassungswidrig, eine Abtreibung aufgrund einer hohen Wahrscheinlichkeit einer schweren und irreversiblen Schädigung des Fötus oder einer unheilbaren lebensbedrohlichen Krankheit vorzunehmen. Damit wurde einer der drei Fälle, in denen ein Schwangerschaftsabbruch erlaubt war, für rechtswidrig erklärt. Die Auswirkungen dieses Urteils waren enorm, da 98 % der Abtreibungen in Polen (ca. 1000 pro Jahr) aus diesem Grund vorgenommen wurden.

Abtreibungsrecht im polnischen Wahlkampf

Der „Abtreibungskompromiss“ von 1993 war von Beginn an umstritten. So wurde das Recht vor allem während des Wahlkampfes diskutiert. Allerdings schlugen nur die kleineren Parteien größere ernsthafte Änderungen des Gesetzes vor. Die das politische System dominierenden Parteien, PiS und PO, kehrten das Thema eher unter den Teppich.

Angesichts der gesellschaftlichen Polarisierung rund um die Einschränkungen von 2020, haben mehrere Parteien ihre Position zum Thema Abtreibung angepasst. Als Folge dessen ist das stets präsente Thema der Abtreibungsrechte von der Peripherie in den Mittelpunkt des Wahlkampfes und des polnischen Parteiensystems gerückt.

Der größte Oppositionsblock, das von Donald Tusk geführte Wahlbündnis KO (dt. Bürgerkoalition) mit seiner Partei PO als stärkster Bündnispartnerin, hat den grundlegendsten Wandel vollzogen. Während auch die PO bisher die Bedeutung von Abtreibungsrechten eher heruntergespielt hatte, begann die Partei ihre diesjährige Wahlkampagne mit dem Versprechen, eine liberalere Abtreibungspolitik zu verfolgen. Tusk kündigte an, Abtreibungen bis zur 12. Schwangerschaftswoche ermöglichen zu wollen – was innerhalb der PO umstritten war.

Tusks Erklärung griff dabei die jahrelangen Vorschläge der Linkspartei Lewica auf, die für die Zulassung von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur 12. Woche plädiert.

Auch die gemeinsame Liste der Zentrumspartei Polen 2050 und der landwirtschaftlichen Polnischen Volkspartei erwähnt das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Die Parteien schlagen vor, zunächst die Rechtslage von 1993 wiederherzustellen und dann innerhalb von 100 Tagen ein Referendum abzuhalten. Auf diese Weise versuchen sie, einen Spagat zwischen ihrer eher katholisch-konservativen Wähler*innenschaft und der großen Unzufriedenheit mit der Einschränkung der Abtreibungsrechte.

Einzig die PiS und die rechtsaußen Partei Konfederacja schlagen keine Änderungen vor und unterstützen – wenig überraschend – das Urteil von 2020.

Was bedeutet das für die bevorstehende Wahl?

Zum ersten Mal sind Abtreibungsrechte ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden Großparteien und nehmen auch in den Wahlprogrammen der potenziellen Koalitionspartner einen zentralen Platz ein. Ob dieses strategische Umschwenken der Parteien jedoch das Wahlergebnis beeinflussen wird, lässt sich nicht klar prognostizieren.

Die Einstellungsforschung zeigt, dass Pol*innen im europäischen Vergleich zu den entschiedensten Abtreibungsgegner*innen gehören. Diese konservative Haltung wird häufig auf den großen Einfluss der katholischen Kirche zurückgeführt, die nicht nur die öffentliche Meinung und die nationale Identität prägt, sondern auch eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Abtreibungsgesetze gespielt hat.

Gleichzeitig zeigen aktuelle Meinungsumfragen, dass etwa 55 % bis 62 % der Befragten zumindest eine Rückkehr zu den Regeln, die vor dem Urteil von 2020 galten, befürworten. Etwa 30 % sprechen sich für eine Liberalisierung des Gesetzes von 1993 aus. Nichtsdestotrotz bestimmt das Thema Abtreibung die Wahlentscheidung nur marginal. 2022 gaben nur etwa 1,4% der Befragten an, dass ihre Stimme von der Position der Parteien zu Schwangerschaftsabbrüchen abhinge – entscheidend für die meisten Wähler*innen seien eher Themen wie Wirtschaft und Inflation.

Trotz dieser ernüchternden Zahlen ist das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nicht unwichtig. Laut Wahlprognosen ist von einem Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden wichtigsten Parteien auszugehen. Daher könnten selbst Faktoren, die das Ergebnis marginal beeinflussen, für die Gestaltung des künftigen Parlaments von entscheidender Bedeutung sein. Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, stets präsent, jedoch nie derart prominent, könnte daher eine wichtigere Rolle als je zuvor spielen.

 

Foto von Zuza Gałczyńska auf Unsplash

 

Dominika Tronina ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Demokratieforschung und Politische Systeme Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bevor sie an die HU kam, absolvierte Dominika ein Studium der Osteuropastudien (MA), Soziologie und Polonistik (BA). Ihre Forschungsschwerpunkte sind soziale Bewegungen, politische Kommunikation und digitale Medien, insbesondere in Bezug auf rechtsradikale und anti-gender Politik. In ihrer Dissertation untersucht Dominika Prozesse der Online-Transnationalisierung von Anti-Gender-Bewegungen aus Kroatien, Deutschland, Frankreich, Italien und Polen.

Kaja Kaźmierska arbeitet am Forschungsprojekt Judicial Autonomy under Authoritarian Attack. In ihrer Doktorarbeit befasst sie sich mit dem EuGH und EGMR und analysiert Bedrohungen für die Unabhängigkeit dieser Gerichte. Sie ist außerdem assoziierte Forscherin bei DynamInt, dem Graduiertenkolleg der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität. Bevor sie zur HU kam, arbeitete Kaja über vier Jahre als Rechtsanalystin im Bereich EU-Recht bei einem Beratungsunternehmen, Spark Legal Network, in London. Kaja studierte englisches, deutsches und europäisches Recht am King’s College London und an der Humboldt-Universität. Sie hat einen MA in Internationalen Beziehungen der EU vom Europakolleg in Brügge.