Wie kann in dem Betrachten von Gewaltbildern jene Gewalt kritisiert werden, die zu ihrer Entstehung geführt hat? Diese Frage hat in den vergangenen Monaten erneute Dringlichkeit gewonnen, angesichts der um die Welt gehenden Bilder von rassistischer (Polizei-)Gewalt. Dafür wende ich mich Überlegungen von Judith Butler zu, die in ihren Ausführungen zur Fragilität des Lebens die Entunterwerfung und Kritikfähigkeit des Subjekts mit seiner grundsätzlichen Verletzbarkeit zusammendenkt. Ich möchte zeigen, dass gerade in der Verletzlichkeit der Betrachter_innen visueller Ungehorsam aufblitzt. Wie also kann eine westliche Bilderpolitik die Gefährdetheit des Lebens anerkennen und in dieser Anerkennung als ein Medium der Vermenschlichung agieren?
Das gefährdete Sehen
In ihren Gedanken über ein gefährdetes Leben, über Krieg, Affekt und die Rolle der Fotografie, begibt sich Judith Butler auf die Suche nach einer ethischen Verantwortung in Zeiten von Krieg und Terror nach dem 11. September 2001. Ihr Interesse ist, Fragen von politischer Macht und Anerkennung vor dem Hintergrund einer primären Bezüglichkeit und Verletzbarkeit des Subjekts, aller Subjekte, zu reflektieren. Angesichts aktueller Gewaltkonflikte jedoch problematisiert Butler eine gravierende Ungleichheit im Umgang mit der Gefährdetheit des Lebens: Wer gilt überhaupt als Mensch? Wessen Leben und damit Tod sind betrauernswert? Welche Techniken der Ent- und Vermenschlichung werden eingesetzt? Wie können mediale Bilder an einer Ethik der Gewaltlosigkeit mitarbeiten?
Die Idee von einem ,zivilisierten‘ Westen und dem ,schurkischen‘ Osten erkennt im Anderen nicht das Leben, sondern die Lebensgefahr. Insbesondere den Anspruch auf das Recht, Demokratie mit Gewalt zu installieren, Modernität und Zivilisiertheit in die ,archaische‘ Welt des islamischen Fundamentalismus zu bringen und damit für Freiheit zu sorgen, beschreibt Butler als säkularisierte Zwangspolitik eines göttlichen Allmachtsanspruchs.
Gesichter rassifizierter ,Schurken‘ werden in dieser westlichen Bilderpolitik meist dazu eingesetzt, ein Bedrohungsszenario aufzurufen, dieses dann als bewältigbar zu entwerfen und in ein Gefühl der Sicherheit zu verwandeln. Ähnlich produktiv sind Bilder der feminisierten Zivilbevölkerung. Das Motiv der Entschleierung verweist nicht wirklich auf eine neue politische Freiheit arabischer Frauen, sondern auf den selbstgerechten Hegemonieanspruch der USA. In Butlers Worten: Diese Bilder entmenschlichen.
Wie lässt sich an dieser triumphalistischen Bilderpolitik Kritik üben? Judith Butlers Idee ist sehr einfach, doch sicherlich nicht einfach zu leben. Ihr ethisches und politisches Anliegen ist ein Wissen um die grundsätzliche Gefährdetheit des Lebens. Würde diese Gefährdetheit anerkannt, so könnte auch in der visuellen Kultur Gewalt in Trauer umgewandelt werden. Nun ist das Interessante an Butlers Gedanken, dass es ihr um eine zweifache Anerkennung geht: Neben der Anerkennung der eigenen Verletzbarkeit erkennt sie auch den Wunsch an, das töten zu wollen, was mich in meiner Existenz bedroht. Menschlichkeit, so Butler, sei ein unauflösbarer innerer Konflikt zwischen dem Wissen um die eigene Exponiertheit und der Möglichkeit, das Leben des Anderen zu gefährden.
Deshalb, so Butler, sollte der Fähigkeit zu trauern im politischen Feld eine zentrale Rolle beigemessen werden, um Gewalt aufhalten zu können und nicht dermaßen regiert werden zu wollen. Meine Frage schließt sich daran an: Wie kann Trauer auf dem Feld des Visuellen zu ihrem Recht kommen? Welche Wege führen aus einer selbstgerechten Kälte in eine nicht-narzisstische Bilderpolitik und zu einem ‹ungehorsamen Sehen›?
Das Gefährdete sehen
Künstlerische Arbeiten wie die von Gal Weinstein, der 2004 die Gesichter der toten Saddam-Söhne nach Pressefotos malte oder Fernando Boteros Zyklus zu Abu Ghraib waren Versuche, den Entmenschlichungen mit ästhetischen Mitteln zu begegnen. In diesen Fällen sind die Umsetzungen fragwürdig, weil sie die Exponiertheit des Leidens Anderer wiederholen, nicht aber die Bedingungen für die Zurschaustellung dieses Leidens selbst hinterfragen. Damit laufen sie Gefahr, im Strom jener Gräuelbilder mitzuschwimmen, die unter Verdacht stehen, Betrachter_innen eine Abstumpfung gegenüber Gewalt einzubringen. Auch künstlerische Arbeiten beteiligen sich an diesen rassistisch-sexistischen Sichtbarkeitsverhältnissen, insofern sie den Rahmen des visuellen Feldes, in dem sie sich aufhalten und den sie mit aufrechterhalten, nicht in ihre Reflexion über Gewalt einbeziehen.
Doch wie wird es möglich, die Gewaltförmigkeit des Rahmens selbst sichtbar zu machen und damit zu unterbrechen? Gewaltlosigkeit, so Butler, hat keinen harmonischen Ort im Subjekt, sondern ist ein unauflösbarer Konflikt zwischen der eigenen Verletzungsangst und der Trauer um den Anderen. Beide Impulse muss eine Unentscheidbarkeit verbinden. Diese Ambivalenz ruft auf dem Feld des Visuellen das ,Angesicht‘ wach. Judith Butler bezieht sich mit dem Begriff des ,Angesichts‘ auf Emmanuel Lévinas Konzept des visage als „Antlitz des Anderen“.
Das ,Angesicht‘, schreibt Lévinas, sei eine Annäherung an die elementarste Form der Verantwortung für den Anderen. Das Angesicht ist ein Antlitz der Menschlichkeit, das das Subjekt jenseits seines Willens anspricht und anblickt, es besticht und in dieser Bestechung nicht entkommen, sondern rotieren lässt. Das Angesicht kommt dem eigenen Leben nicht zu Hilfe, sondern stört es, weil es ihm seine Ansprechbarkeit zurückgibt. Als Gegengewicht zu entmenschlichenden, triumphalistischen und immunisierenden Sichtbarkeitsverhältnissen des Westens plädiert Butler daher für das kritische Bild, welches sich dem ,Angesicht‘ hin öffnet und mit ihm ringt.
Leider führt Butler dafür kein Bildbeispiel an, in dem sie dies gelungen sieht. Und auch mir fällt die Vorstellung schwer, ein einziges isoliertes Bild könne, gleichsam als allmächtiges Gegenbild, den Trauerstau auflösen. Sinnvoller erscheint mir, von Bilderfolgen und -kontexten auszugehen, deren einzelne Bestandteile nicht per se kritisch sind, wohl aber in ihrer Anordnung Momente der Kritik entwickeln können, indem sie die hegemoniale Narration unterbrechen.
Resümierend lässt sich festhalten, dass eine Ethik des Visuellen sich nicht, wie so viele westliche Stimmen, selbstvergessen um eine Bilderflut sorgen sollte, die das Sehen gefährde; sie sollte vielmehr dazu auffordern, das Gefährdete zu sehen. Das Dispositiv der Sicherheit sollte deshalb mit einer Ethik der Verletzbarkeit – der Verletzbarkeit aller Leben und der Verletzung dieser Verletzbarkeit durch ihre bilder/politische Ungleichheit – konfrontiert werden. Eine Unterteilung in künstlerische oder massenmediale Darstellungen, in Malerei oder Fotografie, in Fiktion oder Dokumentation hilft hierbei nicht ausreichend weiter. Alle visuellen Register haben leider das Potenzial, unsere ethische Ansprechbarkeit zu blockieren. Die Blockade löst sich erst dann, so könnte Butlers These weitergedacht werden, wenn die Realisierung der eigenen Gefährdetheit den Rahmen des visuellen Regimes charakterisiert. Erst wenn die Anerkennung der eigenen Verletzbarkeit das Feld des Visuellen mitstrukturiert, schwindet die Abstumpfung angesichts anderer Tode.
Eine Praxis des ,ungehorsamen Sehens‘ bedeutet, unsichtbar gemachte Voraussetzungen eines visuellen Regimes wieder bewusst zu machen – den Rahmen zeigen und ausstellen. Den Rahmen rahmen heißt, den unausgesprochenen Hintergrund des Dargestellten zu zeigen. Ein ,ungehorsames Sehen‘ könnte aufblitzen, wenn z.B. das Video des gewaltsam herbeigeführten Erstickungstodes des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten am 25. Mai 2020 zusammen gezeigt würde mit dem Video, das der Schwarze Vogelbeobachter Christian Cooper am selben Tag im New Yorker Central Park aufnahm, als er die weiße Passantin Amy Cooper bat, ihren Hund anzuleinen. (https://www.nytimes.com/2020/06/14/nyregion/central-park-amy-cooper-christian-racism.html).
Ein ,ungehorsames Sehen‘ würde in der phantasmatischen Anschuldigung einer weißen Frau, ein Schwarzer Mann bedrohe sie, und in der öffentlichen Tötung eines Schwarzen Bürgers durch einen weißen Beamten eine Re-Aktualisierung US-amerikanischer Lynchtraditionen erkennen. Ein ,ungehorsames Sehen‘ würde vor allem aber auch über das Verhältnis von Black Lives und ‚dog lives‘ diskutieren: Während hier eine Schwarze Person gezielt auf offener Straße getötet wurde, sorgte man sich dort um das Wohl eines japsenden Hundes. Der Hund war schneller von seiner weißen Eigentümerin getrennt als der Würgegriff des weißen Rassismus verboten. Einem ,ungehorsamen Sehen‘ geht es somit nicht um Nicht–zeigen, sondern um das Ungezeigte inmitten des Gezeigten.
Literatur:
Linda Hentschel: Schauen und Strafen. Nach 9/11, Band 1, Kulturverlag Kadmos Berlin, Juni 2020.
Linda Hentschel ist Kunst- und Kulturwissenschaftlerin. Sie studierte Kunstgeschichte, Kulturwissenschaften und Romanistik in Marburg und Montpellier. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte der optischen Medien und der visuellen Wahrnehmung, Foto- und Filmtheorie, Medien und Gewalt, Kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung. Nach Stationen u.a. an der Universität der Künste Berlin, der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig sowie der Humboldt-Universität zu Berlin ist sie seit 2015 Professorin für Kunstbezogene Theorie an der Kunsthochschule Mainz an der Johannes Gutenberg-Universität.