Schreibtisch von J. Windheuser im September 2021

#MeinSchreibtisch: Jeannette Windheuser

Gerade auf der neu eingerichteten Professur Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Gender und Diversität angekommen, war einer meiner ersten Gedanken in meinem Büro an der Geschwister-Scholl-Straße, dass auch für die Wissenschaft Virginia Woolfs vielzitierte Feststellung über die Literatur gilt: „a woman must have […] a room of her own if she is to write […]“ (Woolf 1928/2019).

Dass die Wissenschaft manchmal ‚wie im Kloster‘ sei, die Einsiedelei brauche, war mir zwar aus eigener Erfahrung sehr gut bekannt. Aber nach der in über einem Jahr Pandemie erlebten Vermischung von privatem (und öffentlich-digitalem) Raum, Sorgearbeit, Lohnarbeit und den dazwischen hart erkämpften Zeiten und Räumen für das eigene wissenschaftliche Denken und Forschen rückte die für die Freiheit der Wissenschaft notwendige Einsamkeit am eigenen Schreibtisch noch einmal mehr ins Bewusstsein.

Generation und Geschlecht

Auf dem Schreibtisch – diesem Fleck Freiheit – stapeln sich nun die Bücher für Forschung und Lehre in diesem Wintersemester: Es gilt die Grundlagen für ein in der Erziehungswissenschaft der Humboldt-Universität neu zu etablierendes Lehrgebiet zu schaffen, das sich systematisch betrachtet aus der erziehungswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung speist. Ziel ist es, zwischen der Erziehungswissenschaft und dem transdisziplinären Zugang der Geschlechterstudien einen Spannungsbogen herzustellen, der sich dem Zusammenhang von Generation und Geschlecht widmet. Was wurde und wird in den unterschiedlichen feministischen Theorieströmungen über das generationale Verhältnis, über Erziehung und Bildung gedacht (Casale/Windheuser 2019)? Wie verändert sich Frauen- und Geschlechterforschung, wenn ihre theoretische, historische und empirische Forschung beispielsweise zu Sorge, Geschlechterordnung und weiblicher Berufstätigkeit auf ihr Verhältnis zur generationalen Differenz hin befragt wird? Welche Utopiebildung geht aus der feministischen Theorie für das Generationen- und Geschlechterverhältnis hervor und was könnte das für Erziehungs- und Bildungsinstitutionen und den pädagogischen Beruf bedeuten? Was passiert, wenn man die Besonderheit von Generation und Geschlecht aus queerer, intersektionaler oder postkolonialer Perspektive betrachtet? Und inwiefern fordert die pädagogische Kategorie Generation dazu heraus, aktuelle Paradigmen der Geschlechter- und Diversitätsforschung erneut zu durchdenken und gegebenenfalls einer Re-Vision zu unterziehen?

Sexuelle Bildung

Neben diesen grundlegenden Fragen forsche ich derzeit zur Geschichte und Theorie Sexueller Bildung mit einem Schwerpunkt auf der Implementierung schulischer Sexualerziehung. Bildung und den zugehörigen Institutionen wird mittlerweile international eine Schlüsselposition im Hinblick auf sexuelle Gesundheit  zugesprochen (WHO/BZgA 2011). Im Hinblick auf die Bundesrepublik liegt zumindest formal ein hoher Institutionalisierungsgrad vor, allein schon durch die Berücksichtigung in den länderspezifischen Schulgesetzen, Rahmenlehrplänen und/oder Richtlinien. Mich interessiert hier vor allem die Anfangszeit dieser implementierenden Prozesse ab den 1960er Jahren (übrigens finden die sich zu dieser Zeit in unterschiedlicher Form in beiden deutschen Staaten). Was war der Horizont, der es möglich machte und bedingte, dass Sexualerziehung in der Schule verankert werden konnte? Welche Kontroversen begleiteten diesen Prozess? Welche Vorstellungen von Sexualität, Geschlecht und Generationenverhältnis gingen damit einher? Gerade schreibe ich mit meiner Kollegin Anna Hartmann aus Wuppertal an einem Aufsatz, der letztere Fragen an die Schriften Helmut Kentlers stellt. Kentler ist eine umstrittene Figur, weil er einerseits als Vorreiter der emanzipatorischen Sexualerziehung galt und sein Wirken andererseits aufgrund seiner Verantwortung für die Unterbringung von männlichen Pflegekindern bei pädophilen Männern zum Gegenstand kritischer Untersuchungen geworden ist (Baader et al. 2020).

Neben solcher Quellenarbeit lautet eine der erziehungs-, bildungstheoretisch und theoriegeschichtlich höchst relevanten Fragen für die heutige Sexuelle Bildung, wie es zur Verschiebung von der Sexualerziehung zur Sexuellen Bildung kam. Im geschichtlichen Vergleich sind an den älteren Quellen hingegen die anfänglichen Kontroversen besonders spannend, die sich teils zwar durch einen hohen Grad an Ausdifferenzierung auszeichnen, aber an vielen Stellen mit einer androzentrischen Verengung einhergehen.

Anderes Denken

Demgegenüber erscheinen Frauenbildungszusammenhänge, denen ein weiteres meiner Forschungsinteressen gilt, als Gegenentwurf, der aber keineswegs eine einfache Umkehr bedeutet. Sie sind an vielen Orten der Welt außerhalb oder an den Rändern und manchmal auch mittendrin in der Wissenschaft und ihren Institutionen im Zuge der zweiten Frauenbewegung entstanden – so auch zum Beispiel die Berliner Sommeruniversität für Frauen ab den 1970er Jahren, die Frankfurter Frauenschule oder die Offene Frauenhochschule Wuppertal ab den 1980er Jahren. Sie zeugen von Versuchen, das Andere zu denken und ein anderes Denken zu entwickeln (Hendrix/Windheuser 2020). Sie sind gekennzeichnet von einer Spannung zwischen Forderungen nach Differenz und Gleichheit. Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive interessiert mich vor allem, wie sich in diesen Zusammenhängen die Erkenntnisbildung, der Umgang mit Wissen, die Weitergabe und Transformation von Wissen und damit einhergehende Subjektbildung und Genealogie entwickelten. Bringt der beanspruchte ‚andere Blick‘ dieser feministischen Initiativen womöglich auch eine andere Bildung hervor?

Aufbruch in neue Räume

Einige der Publikationen der 1970er und 1980er Jahre berühren durch ihre radikale Sprache, durch ihren Anspruch, mit einer Form von Wissenschaft und Denken aufzuräumen, welche die Welt, die menschlichen Körper und das Begehren zurichtet. Die Beiträge lassen sich teils nicht einzelnen Autorinnen zuordnen, was mich zurück an meinen eigenen Schreibtisch in meinen eigenen Raum führt: Die feministische Ästhetik einer anderen Wissenschaft war und ist keineswegs eine einsame Aufgabe – nicht zuletzt ist das der feministischen Erkenntnis geschuldet, dass Subjekt zu sein auch angewiesen zu sein bedeutet.

Nach – und voraussichtlich auch weiterhin in – der Pandemie lässt mich das hoffen, diesen Platz am Schreibtisch auch wieder zu verlassen, um die Tür zu Räumen zu öffnen, in denen sich die strenge Kontroverse, der Dissens wie auch das gemeinsame Lachen in einer hitzigen Diskussion wieder sinnlich erfahren lassen.

 

Literatur

Baader, Meike S./Oppermann, Carolin/Schröder, Julia/Schröer, Wolfgang (2020): Ergebnisbericht „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Jugendhilfe“. Hildesheim.

Casale, Rita/Windheuser, Jeannette (2019): Feminismus nach 1945. In: Rieger-Ladich, Markus/Rohstock, Anne/Amos, Karin (Hrsg.): Erinnern, Umschreiben, Vergessen. Weilerswist, S. 158-186.

Hendrix, Ulla/Windheuser, Jeannette (2020): Ein Raum für das andere Denken. Die offene Frauenhochschule als ‚geschichtliche Gegenwart‘. In: Schlüter, Anne/Metz-Göckel, Sigrid/Mense, Lisa/Sabisch, Katja (Hrsg.): Kooperation und Konkurrenz im Wissenschaftsbetrieb. Perspektiven aus der Genderforschung und -politik. Opladen/Berlin/Toronto, S. 80-94.

WHO/BZgA (2011): Standards für die Sexualaufklärung in Europa. Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten. Köln.

Woolf, Virginia (1928/2019): A Room of One’s Own. Berlin.

 

Prof. Dr. Jeannette Windheuser ist seit 2021 Tenure-Track-Professorin für Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Gender und Diversität am Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied des ZtG. Sie veröffentlichte u. a. die Monographie Geschlecht und Heimerziehung. Zuletzt erschienen ihre Herausgeberschaften mit Elke Kleinau Generation und Sexualität und mit Rita Casale, Monica Ferrari und Matteo Morandi Kulturen der Lehrerbildung in der Sekundarstufe in Italien und Deutschland/(engl./ital.).