Ein Vernetzungstreffen für Wissenschaft, Kunst, Aktivismus und Leben
Freund*innen, Familien, solidarische Bündnisse und andere Beziehungen sowie ihr Konfliktpotenzial standen im Zentrum der Tagung „Willst du mit mir gehen? Inter*trans*nonbinary*queer perspectives on kinships and conflicts“. Mit Panels, Workshops, Essays, Open Spaces, Meet-Ups und einem Kamingespräch wurde vom 06.09.–08.09.2021 zu aufregenden Diskussionen und produktivem Streit eingeladen. Trotz der digitalen Lösung setzten die Organisator*innen den Fokus auf Vernetzung und persönliche Gespräche, die ein zwangloses Kennenlernen und Austausch ermöglichten.
Die transdisziplinäre Tagung, deren aktivistischer und künstlerischer Anspruch teilweise nicht wie erhofft eingelöst wurde, rückte mit vorwiegend wissenschaftlichen Überlegungen erfolgreich queere Perspektiven und Themen in den Vordergrund, um u.a. die Fragen zu verhandeln: Wie wollen wir gemeinsam arbeiten? Was wollen und müssen wir verändern, und wie können wir uns dabei gegenseitig stärken, um konstruktiv Konflikten zu begegnen? Welche (universitären) Räume braucht es dafür? Der Frage nach entsprechenden Strategien wurde mit der Herausarbeitung dreier zentraler Punkte begegnet: Vernetzung, Sichtbarkeit schaffen, Neues kreieren.
Nachfolgend einige exemplarische Einblicke in die Tagung; das gesamte Programm ist hier einzusehen.
Kamingespräch
Bini Adamczak und Antke_Antek Engel stellten beim Kamingespräch mit Keynote-Charakter Thesen auf, so zum Beispiel: „Wir haben ein weites Vokabular für Identitäten, für Relationen ein sehr begrenztes“ oder „Der Wunsch nach authentischer Geschlechtlichkeit weicht der Verantwortung aus, Geschlecht als Dimension gesellschaftlicher Machtauseinandersetzung zu sehen“. In weiteren Ausführungen regten sie eine Zielorientierung und Fokussetzung auf Beziehungen an, anstatt eines Kampfes für einzelne abgegrenzte Identitäten. Denn Diversität als weit gefasster Begriff bietet vielen Zulauf, und vielleicht unterschätzt die queerfeministische (Gesamt-)Bewegung ihre bisherige Wirkkraft, wo doch viele rechte Stimmen sichtlich Angst vor ihr haben – zu Recht.
Trans* Repräsentation und Community-Wissen
Jul Tirler („Repräsentation von trans*Affekten und Strategien queerer Kinships in aktuellen Filmen und Serien“), zeigte, wie trans* Affekte, befreit von Trans*normativität, als ermächtigende Strategie für trans* Sorge und Zuneigung eingesetzt werden. Vern Harner („TRANSgenerational: Knowledge & support sharing in trans communities“) illustrierte die facettenreichen Praxen von Wissensweitergabe, um dem Mangel an Infrastruktur für trans* Unterstützungsangebote entgegenzukommen, und warf dabei auch generationale Fragen auf: Wer gilt als Mentor*in und wie funktioniert Seniorität in trans* Communities? Wie sieht Seniorität aus, wenn sie nicht vom Alter, sondern vom Transitions-Zeitpunkt und von Erfahrungen abhängt?
Banden bilden
Wie schaffen wir also queere Sichtbarkeit in der Wissenschaft? Und wie können wir Banden bilden? Diesen Fragen widmeten sich die Workshops „We’ll never walk alone… Queere Verbandelungen und Taktiken in Academia“ von Margo Damm, Ty Fritschy, Charlotte Hannah Peters und Jul Tirler sowie „Queer in Academia?! Worte, Genealogien und Strategien“ von Juliane Strohschein. Die gesammelten Vorschläge reichten von visuellen Hinweisen auf queere Präsenz (Stichwort: Regenbogensymbolik), über das Schaffen eigener ‚Zitierkartelle‘ und das Gründen von Netzwerken, AGs etc., bis hin zu Unterstützung durch Mentor*innenschaft.
Der Beitrag „Zwischen Separatismus und strategischen Bündnissen – Ein Gespräch zu conflicts und kinships im trans*nicht-binären*queeren Aktivismus“ von René_ Rain Hornstein und Freddy Mo Wenner zeichnete Konflikte innerhalb queerer Organisationen auf, teilte erlebte Konfliktdynamiken und deren Konsequenzen. Gefragt wurde u.a. nach der Auswirkung dauerhafter Belastung durch Marginalisierungsstress sowie nach Schritten für einen solidarischen, empowernden Umgang miteinander.
Clara Schwarz („‚I just really miss my friends‘ – Entwicklungen von queerer Freund:innenschaft in der Corona-Pandemie“) und Francis Seeck („Care trans_formieren. Eine ethnographische Studie zu trans und nicht-binärer Sorgearbeit“) warfen Fragen nach Solidarität und Zusammenhalt, Corona-bedingten Konflikten und nicht-familiären Kinships auf. Wie sieht queere, nicht-binäre und trans* spezifische Fürsorge aus? Und wie hat sie sich während der Corona-Pandemie verändert? Diskutiert wurden Lösungsansätze von Transitionsbegleitungen und Soli-Parties bis hin zu digitalen queeren Räumen und Zoom-Tanzparties, auch um Solidaritäten und Verbandelungen einen Nährboden zu geben.
Das Private ist politisch – Essays
Wie können von anderen zugeschriebene Codierungen der eigenen Identität neu verhandelt und in passender Form sichtbar gemacht werden? Ty Fritschys Text „Der gegebene / zurückgewiesene Name“ verhandelte die Suche nach einem selbstgewählten neuen Namen als Prozess mit offenem Ausgang, der zugleich als Selbstermächtigung und Selbstbestimmung sowie als Verunsicherung und Melancholie erlebt wird. Jara Schmidts Beitrag „Unlesbarkeit“ setzte sich im Kontext von Postmigration und Queerness damit auseinander, aufgrund eines äußeren – weißen, femininen – Erscheinungsbildes fast immer falsch gelesen zu werden – womit einerseits Privilegien einhergehen, andererseits aber eine Unsichtbarkeit geschaffen wird.
Kritik und Fazit: kinships over conflicts
Das Feedback am Ende der Tagung fiel überwiegend positiv aus. Benannt wurden u.a. eine emotionale und kognitive Stärkung durch bspw. persönlich-politischen Austausch, das Vorhandensein eines Awareness-Teams, das Schöpfen von Mut und das Finden von Anknüpfungspunkten und neuen Verbindungen. Ein Bücherzirkel und ein regelmäßiges gemeinsames queeres Schreiben wurden angeregt. Es gab jedoch auch Enttäuschung darüber, dass der wissenschaftliche Anteil sehr überwog und Aktivismus und Kunst dagegen eher zu kurz kamen. Das Stichwort „Klassismus“ fiel in diesem Kontext weitgehend akademischer Debatten.
Weitere Kritikpunkte waren, dass die Konferenz – zumindest dem äußeren Anschein nach zu urteilen – sehr weiß war und trans* Weiblichkeiten sowie inter* Perspektiven kaum vertreten waren. Wobei hier der Bogen zur o.g. ‚Unlesbarkeit‘ geschlagen werden kann, nach der das Erscheinungsbild eventuell täuscht – schließlich machen nicht erst eine Transition und/oder Sichtbarkeit ein Transsein aus. Mit dem Vortrag und Workshop „There is an I in LGBTQI*“ waren Beiträge zu Intersexualität zumindest geplant, mussten von den Beitragenden aber kurzfristig abgesagt werden.
Schließlich ist noch festzuhalten, dass die im Tagungstitel anvisierten Konflikte innerhalb queerer Communities im Vergleich zu den Kinships wenig zum Tragen kamen. Auch hier lässt sich wieder eine Brücke schlagen, diesmal zur oben thematisierten Notwendigkeit queerer Freund*innenschaften. Da Schutzräume – besonders in Form von Tagungen und Vernetzungstreffen – immer noch rar sind, war das Bedürfnis, die (auch durch die Konferenz neu entstehenden) Kinships zu fokussieren, möglicherweise schlicht größer – was die Notwendigkeit von Veranstaltungen wie „Willst Du mit mir gehen?“ verdeutlicht. Daraus lässt sich einerseits ein positives Tagungsfazit formulieren: kinships over conflicts. Andererseits sollte das Potenzial von produktiven Reibungen nicht unterschätzt werden – denn es könnte bei der Bewältigung neuer Konflikte ein hilfreiches Instrumentarium bieten.
Deshalb liegt es an uns, der Community, auch in Zukunft besagte Räume zu transformieren und zu gestalten, um produktive Ambivalenzen herauszuarbeiten und zu bestärken.
Margo Damm schreibt an der HU im Fach Gender Studies an ihrer Masterarbeit, die sich unter dem Stichwort der feministischen Wissenschaftskritik mit den Ambivalenzen innerhalb des akademischen Feminismus auseinandersetzt. Der Frage, was Uni kann (oder was auch nicht), geht sie unter anderem auch in ihrer Tätigkeit in der AG Perspektiven der Fachgesellschaft Gender nach. Neben dem Studium arbeitet Margo bei netzwerk n, einem Verein, der sich für nachhaltige Transformation an den Hochschulen einsetzt, und ist hier für Öffentlichkeits- und Vernetzungsarbeit zuständig.
Mel Irmey studiert einen M.Ed. in Sonderpädagogik mit Gebärdensprache und Englisch an der HU in Berlin. Neben der Uni gibt Mel Workshops, schreibt kreativ u.a. in zwei Schreibkollektiven und ist in der Anti-Rassismus-Arbeit tätig. Andere von Mels Interessenbereichen sind Genderkonstruktionen, Queerfeminismus, Änderung des bestehenden Schulsystems und Theater.
Dr. Jara Schmidt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Interkulturelle Literaturwissenschaft, postmigrantische und postkoloniale Diskurse in Literatur und Kultur, Gender Studies, Queer Studies. Sie koordiniert das interdisziplinäre Forschungsnetzwerk Widerständige Praxen. Postmigration in Literatur, Medien und Sprache der Gegenwart.
Clara Schwarz promoviert an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zur Entwicklung queerer Freund_innenschaften in der Corona-Pandemie und lehrt an der Frankfurt University of Applied Sciences. Claras Forschungsschwerpunkte umfassen Gender und Queer Studies, Sexualitäten, Fem(me)ininitäten und Freund_innenschaft.