Dieses Jahr jährte sich nicht nur der Fall der Berliner Mauer zum 30. Mal, sondern auch der Gründungstag des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien, damals noch Zentrum für interdisziplinäre Frauenforschung (ZiF). Anlass genug, mit einer Konferenz 30 Jahre institutionalisierte Frauen- und Geschlechterforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin zu feiern sowie die Umbruchsjahre mit Blick auf Geschlechterfragen zu analysieren. Dabei ging es auch um Interdependenzen von gender, race und Ostdeutsch-Sein, transnationale Verhältnisse und nationale Bewegungen. Wie werden ostdeutsche Identitäten konstruiert und wie funktionieren diese im hegemonialen Diskurs nationaler Identität? Wie werden Erinnerungen und Geschichte fortgeschrieben und wie wirkt sich dies auf heutige Vorstellungen aus? Und wie entstand in den Jahren des politischen Umbruchs und der strukturellen Veränderungen in der Universität das ZiF? Zwei Tage lang wurde lebhaft und teilweise kontrovers darüber diskutiert.
Einmischen
Wer ist eigentlich ostdeutsch? Und was bedeutet es ostdeutsch zu sein? Diese vermeintlich einfachen Fragen thematisierten und verkomplizierten die Beiträge von Hildegard Maria Nickel „Ostfrauen – Fakten und Mythen“, Sylka Scholz „Der Ostmann – das unbekannte Wesen“, Judith C. Enders „Transformationsprozesse und Auswirkungen auf Geschlechterarrangements – zur Wertorientierung von Frauen der Dritten Generation Ostdeutschland“ und Doris Liebscher „Essentialisierung, Relativierung oder Intersektionalität – zur Diskriminierung Ostdeutscher nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz“. Inwiefern wirkt sich die Migration (von Ost nach West und umkehrt) auf ostdeutsche Identität aus? Wie konkurrieren Fremd- und Selbstzuschreibungen? So zeigten Hildegard Maria Nickel und Sylka Scholz in ihren jeweiligen Vorträgen, dass die in den öffentlichen Diskussionen häufig bemühten Stereotypen der ,erfolgreichen Ostfrau‘ und des ,problematischen Ostmannes‘ über die Komplexität ostdeutscher Geschlechterrealitäten hinwegtäuschen und – besonders im Fall des Ostmannes – auch über die Leerstellen in der Forschung. Ebenso schwierig ist es, Ostdeutschsein im juristischen Sinne zu definieren, zum Beispiel, wenn es um Fragen von Diskriminierung geht, wie der Beitrag von Doris Liebscher aufzeigte.
In der öffentlichen Debatte fungiert ,das Ostdeutsche‘ oft als Markierung des Anderen: so wurde der ostdeutsche Mann aus dem ,braunen Osten‘ zum Sinnbild des deutschen Rechtsextremismus der Nachwende-Zeit und lenkte damit von westdeutschen rechtsextremen Strukturen ab. Dies bedeutet freilich nicht, das Phänomen des ostdeutschen Rechtsextremismus zu leugnen, sondern Diskurse auf ihre Machtstrukturen zu überprüfen. Ähnliches demonstrierte Kathleen Heft in ihrem Vortrag, wenn sie bezogen auf Fälle von Kindsmord von der medialen Ossifizierung dieser Verbrechen spricht. Diese Strategie dient dazu, Phänomene aus dem gesamtdeutschen Kontext abzuspalten, indem diese als typisch ostdeutsch markiert werden. Allen erwähnten Vorträgen war gemein, dass sie vereinfachte Diskurse über den Osten und die Ostdeutschen hinterfragten und dabei gleichzeitig vorherrschende deutsche hegemoniale Vorstellungen als dezidiert ‚westdeutsche‘ Vorstellungen sichtbar machten.
Die Ambivalenzen und Spannungsverhältnisse zwischen offiziellem Frauen(wunsch)bild und der gelebten Realität in der DDR zeigten sich auch in dem Dokumentarfilm „Wittstock. Wittstock“ von Volker Köpp, der drei Textilarbeiterinnen über 22 Jahre begleitet hatte, sowie in der Ausstellung zur Modezeitschrift „Sibylle“, die Sylka Scholz mit Studierenden in Jena erarbeitet hat. Die hier gezeigten Fotos lassen die Gratwanderung erahnen, die die Redaktion versuchte: eine Zeitschrift zu machen, die ein neues sozialistisches Frauen- und Mütterbild zeigen und auch mit schaffen sollte und die auch ein Ort für weibliche Kreativität, Individualität und leisen Protest sein wollte. Die Frage, was 30 Jahre nach der Wende und in der Erinnerung daran eigentlich ostdeutsch ist, wurde auf sehr humorvolle Weise auch in der Performance von SheShePop aufgegriffen. Hier wurden durch Annett Gröschner und Lisa Lucassen die Stereotype, Missverständnisse und Projektionen gerade auch in der Begegnung von Ost- und Westfrauen in Szene gesetzt und der Versuch unternommen, die eigenen biografischen ,Schubladen‘ zu öffnen und sich offen und neu zu befragen.
Gestalten
Obwohl in den letzten Jahren viel über Ostdeutsche geredet wurde, kommen Ostdeutsche in den Debatten noch zu selten selbst zu Wort. Damit fehlen nicht nur wichtige Stimmen und Erfahrungen im Diskurs, sondern auch Akteur_innen in gesellschaftlichen Prozessen. Nickel machte in ihrem Vortrag sehr eindrücklich deutlich, wie unterrepräsentiert Ostdeutsche genau in den Bereichen sind, wo Zukünfte gestaltet werden. So sind im gesamtdeutschen Vergleich in den Spitzenpositionen in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Verwaltung lediglich 1,7 % Ostdeutsche vertreten. Das ZiF, dessen Gründung im Vortrag von Isabel Adler rekonstruiert wurde, stellt dabei, zusammen mit dem Unabhängigen Frauenverband (UFV) eine positive Ausnahme dar, wie in den Jahren des Umbruchs eine aktive Mitgestaltung in einem sich wandelnden System möglich war. Die präsentierten Interviews mit Zeitzeug_innen und (Mitbe-)Gründer_innen des ZiF fungieren dabei als oral history der Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung an der HU. Auch das Panel mit Ruth Tesmar, der ersten weiblichen Kunstprofessorin und Leiterin des Menzel-Dachs, verdeutlichte die Gestaltungskraft und Kreativität von DDR-Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen. Sie hatte hier auf feministische Art die männlich konnotierte Tradition des Universitätszeichenmeisters transformiert und leistete außerdem als Dekanin einen wesentlichen Beitrag zur Umstrukturierung der Kunst- und Kulturwissenschaft an der HU nach 1991.
Einen ähnlichen Ansatz der oral history verfolgt auch das OWEN-Projekt [https://owen-berlin.de/dauerbrenner/frauengedaechtnis.php] „Frauengedächtnis“, das Karin Aleksander, Heike Schimkat und Bärbel Mierau vorstellten. Das Projekt sammelte Interviews mit Frauen verschiedenster Milieus und Schichten aus der DDR. Die in der Genderbibliothek archivierten und transkribierten Interviews geben persönliche Einblicke in das Leben und die Erfahrungswelten von drei Generationen ostdeutscher Frauen und können für Forschungsvorhaben eingesehen werden.
Diese Multiperspektivität fand sich ebenso in den Beiträgen zum Panel „Verwobene, intersektionale Macht- und Herrschaftsverhältnisse vor und nach der Wende“ wieder, in dem Ilanga Mwaungulu und Cash Hauke nuancierte Betrachtungen gesellschaftspolitischer Themen wagten. So verdeutlichte Ilanga Mwaungulu in ihrem Beitrag die Gleichzeitigkeit von strukturellem Rassismus und dem politischen anti-rassistischen Anspruch in einer Medienanalyse zur Solidaritätskampagne für Angela Davis in der DDR-Frauenzeitschrift „Für Dich“. Cash Hauke hinterfragte in seinem* Beitrag eine eindimensionale Ost-Identität, konstruiert im gesellschaftlichen Diskurs der ,Zuhörpolitik‘, in der inner-ostdeutsche Differenzlinien, Machtverhältnisse und Diskriminierungserfahrungen unsichtbar bleiben und dadurch verfestigt werden. Mehr noch als die Fragen ‚wer spricht und über wen wird gesprochen?‘ wurden in den Vorträgen die Verflechtungen von Machtgefällen und Handlungsmacht deutlich, die gesellschaftliche Veränderungen beeinfluss(t)en.
Provozieren
Als Rahmennarrativ fungierten die Vorträge von Ulrike Auga und Ulrike Lembke, in denen diese ausgehend von den Emanzipationsbewegungen der Friedlichen Revolution 1989 einen Bogen zu heutigen Widerstandsbewegungen beziehungsweise sozialen Utopien schlugen. So regte Ulrike Auga an, mithilfe von queeren, postkolonialen und postsäkularen Theorien feministische Visionen weiterzudenken. Ulrike Lembke fand zusätzlich in der Lyrik potenzielle Visionen, die den gegenwärtigen Krisen gesellschaftliche Utopien entgegengesetzt werden können. Der Kunst als Ort visionärer Wissensproduktion widmete sich auch Elizaveta Dvorakk in ihrem Vortrag „Widerstand, Aktivismus und Kunst in der DDR. Visionen – (Un-)Sichtbarkeiten – Kommodifizierung“, der besonders das oft übersehene Genre der Performancekunst der DDR in den Blick nahm. Zu einer Tour der realen Orte des Widerstandes in Berlin, nämlich der Zionskirche mit der Umweltbibliothek und der Gethsemanekirche, hatte Ulrike Auga bereits am ersten Konferenztag eingeladen.
Reelle und figurative Orte des Widerstandes beleuchtete auch das Panel „Transnationalismus. Rückbezug neuer sozialer Bewegungen auf die Wendeereignisse in mittel- und osteuropäischen Ländern“, das einen Blick über die Grenzen (Ost-)Deutschlands warf. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen in verschiedenen Ländern wurde in den Vorträgen von Anikó Gregor, Bożena Chołuj und Barbara Einhorn über produktive Formen von transnationaler und intergenerationaler Solidarität nachgedacht. Dabei blieben Meinungsverschiedenheiten über Strategien und Dynamiken nicht aus. Abseits eindimensionaler Narrative wurde damit die Komplexität feministischer Diskurse über gesellschaftspolitische Visionen deutlich.
Widerständige Alltagspraxen sowie uneingelöste und möglicherweise unabgegoltene Ideen und Visionen waren auch das Thema der von Birgit Dahlke geleiteten studentischen Arbeitsgruppe der Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf, die sich insbesondere dem Christa-Wolf-Gesprächskreis von 1989-2004 und den Briefen Christa Wolfs in den Wendejahren zuwandte. Sie fragten u.a. danach, wie sich die auffällige Präsenz selbstbewusster gebildeter Frauen in diesen Debatten erklärte. Wurde ihnen (im kollektiven Unbewussten) weniger Beteiligung an DDR-Observations-, Kontroll- und Herrschaftsstrukturen zugeschrieben und galten sie deshalb als moralisch integer? Diese Frage stellte sich dann erneut in der Lesung und Diskussion zum Buch „Seid doch laut! Die Frauen für den Frieden in Ost-Berlin“ mit Almut Ilsen und Bettina Rathenow. Auf sehr eindrucksvolle Weise berichteten sie, mit welchen Zersetzungsstrategien die Staatssicherheit die Oppositionsgruppe „Frauen für den Frieden“ versuchte zu zerschlagen und mit welchen Ängsten, welchem Mut und Strategien diese Frauen dem begegneten.
Mit ihrem vielseitigen Programm hat die Tagung viele seit und vor der Wende virulente Fragen neu gestellt. Dabei sind nicht nur Antworten, sondern auch neue Fragen hinzugekommen. Gleichzeitig zeigte sich, wie lohnend der Blick aus der Geschlechterperspektive auf die Umbruchsjahre, Nach-Wende-Zeit und Debatten über Ostdeutschland ist.
Katrin Frisch ist assoziiertes Mitglied am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien. Sie promovierte über Interdependenzen von rechter Ideologie und englischsprachiger Literatur. Vor Kurzem erschien ihr Buch The F-Word. Pound, Eliot, Lewis, and the Far Right. Ihre Forschungsschwerpunkte sind diskursive Gewalt und Machtstrukturen in kulturellen Praktiken. In ihrer Freizeit versucht sie, das Internet etwas feministischer zu machen.