Zwar ist die Figur der Sally Bowles aus Christopher Isherwoods Berlin-Erzählungen nicht zuletzt durch die Verfilmung mit Liza Minnelli aus dem Jahr 1972 weltberühmt geworden, aber von der ‚realen‘ Sally Bowles, der Schauspielerin Jean Ross, gibt es nur sehr wenige schriftliche Zeugnisse. Gibt es also nur männliche Protagonisten, die für diesen Mythos verantwortlich sind? Existiert der Mythos, von Isherwood und seinen queeren Freunden W.H. Auden und Stephen Spender als Gemeinschaftswerk erschaffen, also nur von und für Männer?
Mehr als Cabaret und Goodbye to Berlin
Neben dem berühmten Dreigestirn gab es eine Vielzahl an Autorinnen und eine ebenso große Vielfalt an Textzeugnissen. So berichtet die unfreiwillig im Berliner Exil gelandete englische Adlige Gräfin Evelyn Blücher während des Ersten Weltkrieges und der Novemberrevolution, wie die kosmopolitische Elite im kaisertreuen Hotel Excelsior ausharrte oder im eigenen Palais am Pariser Platz den Schüssen der Revolutionäre lauschte. Kurze Zeit später erweckte Lady Helen D’Abernon, die Gattin des damaligen Botschafters, die britische Botschaft zu neuem Leben, nachzulesen in ihren Memoiren, die ganz ihrem Klassenhabitus entsprechen. Sehr viel spannender wird es mit den zu Unrecht verkannten Briefen von Alix Strachey. Sie kam wie zahlreiche andere Brit*innen zur Psychoanalyse nach Berlin und wechselte zwischen 1924 und 1925 unzählige Briefe mit ihrem Mann James. Nicht nur diskutieren sie ihre gemeinsame Übersetzung der Schriften Freuds – sie hatten ihn in Wien kennengelernt – sondern Alix Strachey berichtet auf höchst ironische Weise von den Tanzabenden und Bällen, den langen Abenden im Romanischen Café, den Vorträgen am Berliner Psychoanalytischen Institut, aber auch von politischen Entwicklungen, Filmabenden, Konzerten und Theaterbesuchen. Gleichzeitig reflektiert sie deutsch-britische Beziehungen und verrät, ähnlich wie ihre aristokratischen Vorgängerinnen, eine tiefe Abneigung gegenüber der Berliner Arbeiterklasse.
Unterschiedliche politische Perspektiven
Darin unterscheiden sich die Autorinnen von Isherwood, Spender und Auden, deren Ausflüge in die Berliner Unterwelt der Arbeiterschaft legendär, wenngleich auch etwas kolonial in ihrer Haltung sind. Der berühmten Berliner Club-Kultur der 1920er und 1930er hat Stevie Smith im Roman auf gelbem Papier aus dem Jahr 1936 eine Passage gewidmet, und die feministische Autorin, Frauenrechtlerin und Dramatikerin Cicely Hamilton schreibt in ihrem auch auf Deutsch erschienenen Reisebericht aus Deutschland und Berlin viel über die aufkeimende Moderne – Kunst, Architektur, Jugendkultur – aber auch über Verbindungen mit der nationalsozialistischen Bewegung. Gänzlich eingenommen von diesen Entwicklungen war die Gattin des britischen Faschistenführers, Diana Mosley, eine der berühmten Mitford-Schwestern, von denen drei Autorinnen geworden sind. Begeistert schreibt Diana Mosley von Kaminabenden mit Hitler, den Olympischen Spielen und ihrer Heirat in Hitlers Gegenwart. Mosley hat ihre politische Einstellung, für die sie einige Zeit im Gefängnis war, nie geändert.
Einen glasklaren Blick auf die politischen Verhältnisse in Deutschland und Berlin entwickelte hingegen die linke Journalistin und studierte Historikerin Elizabeth Wiskemann in ihren Artikeln für die links-liberale Wochenzeitschrift The New Statesman and Nation: Sie erkennt früh, welche Gefahr und welche Brutalität von führenden Köpfen der NSDAP ausgehen und warnt vergeblich davor, Hitler nur die Politik des Appeasement entgegenzusetzen. Für ihre offenen Texte wird sie 1936 von der Gestapo festgenommen – sie entkommt dank ihrer eigenen Klugheit, weil sie dem Gestapo-Mann im Verhör glaubhaft versichern kann, kein Deutsch zu sprechen und den ihr vorgelegten und sie inkriminierenden übersetzten Artikel nicht eindeutig als den eigenen identifizieren zu können. Auch aufgrund der unmittelbar bevorstehenden Olympischen Spiele lässt die Gestapo sie frei. Elizabeth Wiskemann wird während des Krieges in der Schweiz als Geheimagentin eingesetzt. Anschließend verfasst sie damals viel gelesene politikwissenschaftliche Bücher und wird in Edinburgh die erste Professorin überhaupt, woran noch heute eine Gedenkplakette erinnert.
Der Bericht über den Reichtum weiblicher Stimmen könnte fortgesetzt werden – nicht zuletzt mit dem witzigen, berührenden Briefwechsel zwischen einer weiteren Botschaftergattin – Vita Sackville-West – und ihrer Geliebten, Virginia Woolf, deren Berlin-Besuch höchst ambivalent verlief und geradezu legendär geworden ist. In diesen Briefen finden sich, ebenso wie in jenen aus der Feder von Alix Strachey, auch Hinweise auf die lesbische (Sub-)Kultur Berlins und die Liebschaften, die Vita Sackville-West in Berlin einging. Eine ihrer Geliebten, die deutsch-amerikanische Autorin Margaret Goldsmith, wurde jüngst vom Berliner Aviva-Verlag wiederentdeckt. Ihr Roman Patience geht vorüber aus dem Jahr 1931 erschien vor kurzem in einer neuen Ausgabe: Er gibt einen deutsch-englischen Einblick in weibliche Lebensrealitäten in den 1920er und 1930er Jahren in Berlin, ist die Hauptfigur Patience doch englisch-deutscher Abstammung. In kühlem, ironischem Ton und erstaunlich aktuell erinnert dieser auf deutsch verfasste Text an die gerade beschriebenen Werke aus englischer Feder. Man kann dem männlichen Mythos Berlins also durchaus einen weiblichen entgegensetzen und es bleibt für interessierte Leser*innen noch viel zu entdecken.
Die Ausstellungen
Wer mehr erfahren möchte, kann sich in zwei Ausstellungen in Berlin darüber informieren, den soeben erschienenen zweisprachigen Begleitband Happy in Berlin? English Writers in the City, the 1920s and Beyond (https://www.wallstein-verlag.de/9783835339873-happy-in-berlin.html) lesen oder auf der sich im Aufbau befindenden Website happy-in-berlin.org auf die Suche nach bekannten und unbekannten Autor*innen gehen.
Die Ausstellungen werden vom 15.6.-31.7.21 im Literaturhaus Berlin (https://literaturhaus-berlin.de/programm) und im Grimm-Zentrum der HU gezeigt (Seite der Ausstelung beim GBZ https://www.gbz.hu-berlin.de/events/happy-in-berlin). Sie sind Teil eines Oxford-Berlin-Forschungsprojektes, das von Stefano Evangelista (Oxford) und Gesa Stedman (HU Berlin) geleitet wird.
Gesa Stedman ist seit 2008 Professorin für Britische Kultur und Literatur am Großbritannien-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht u.a. zum Kulturtransfer, zur Geschichte der Emotionen, und zum literarischen Feld der Gegenwart.